Armut in Rumänien: Auch Catalin geht bald weg

Armut in Rumänien: Auch Catalin geht bald weg
Ein Job im Ausland ist für Millionen Rumänen der einzige Weg aus der Not

Vor fünf Jahren folgte Kristina dem Ruf ihrer Schwester nach Italien. Dort wusch die fünffache Mutter aus Rumänien in einem Restaurant jeden Tag, sieben Mal die Woche, 15 Stunden lang Geschirr. Nach drei Monaten gab sie auf. „Nicht wegen der Plackerei“, sagt sie, „ich habe es ohne die Kinder nicht mehr ausgehalten.“

Verdient hat Kristina in diesen zwölf Wochen knapp 3000 Euro. So viel, wie ihr Mann bei der Minengesellschaft in ihrer Heimatstadt Petrosani in zwölf Monaten heimbringt. Mittlerweile ist das Ersparte längst weg, Not und Sorgen haben sich tief in das Gesicht der 42-jährigen Frau gegraben. Schmal und nervös sitzt sie auf ihrer wackeligen Küchenbank, die Farbe blättert von der Wand. Drüber kleben – Kristinas ganzer Stolz – in Klarsichthüllen die Schul-Diplome ihrer Kinder. In ihrem winzigen, zerfallenden Häuschen gibt es viele Auszeichnungen zu bestaunen, aber fast nichts zu essen.

Gäbe es das Kinder-Tageszentrum „Maria Stein“ der Caritas nicht, wäre Kristina wohl gezwungen, wieder ins Ausland zu gehen. Fünf ihrer Kinder verbringen jeden Nachmittag dort. Erhalten warme Mahlzeiten, liebevolle Betreuung bei den Hausaufgaben und beim Spielen. Insgesamt 55 Kinder haben hier Platz gefunden, die meisten aus schwer zerrütteten Familien. Und davon gibt es in der sterbenden Bergarbeiterstadt Petrosani unzählige.

Seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur vor fast 25 Jahren erlebte die künstlich hochgezogene Industrieregion einen beispiellosen Niedergang, die meisten der unrentablen Minen wurden geschlossen. Riesige Industrieruinen entlang der Straßen prägen das traurige Stadtbild. Zwei Drittel der Bevölkerung haben Petrosani verlassen, von den verbliebenen 15.000 Menschen sind 60 Prozent arbeitslos.

Auch Catalin wartet nur noch auf seinen Schulabschluss. Dann, so erzählt der 18-jährige Maturant, wird er seinen Freunden nach Italien folgen. „Ich würde ja nicht gehen, ich bin glücklich hier, das ist meine Heimatstadt. Aber hier gibt es keine Arbeit“, erzählt er. Andras Marton, Direktor der Caritas der Erzdiözese Alba Iulia, kann es dem Jugendlichen nicht verdenken. „Ich habe Verständnis für die jungen Leute, die gehen wollen. Aber es ist bedauerlich, dass so viele gehen.“

Aderlass

Armut in Rumänien: Auch Catalin geht bald weg
Catalin (Rumänien)
Ganz Rumänien hat seit der Wende einen Aderlass erlebt. Drei Millionen Menschen haben auf der Suche nach Arbeit das Land verlassen, haben die Bevölkerungszahlen jeder Stadt und jedes Dorfes schrumpfen lassen.

Die Aufnahme Rumäniens in die EU hat daran wenig geändert: Noch immer beträgt der Durchschnittslohn nur 355 Euro pro Monat – und das bei Preisen für Alltagsgüter, die nur wenig unter dem österreichischen Niveau liegen. Sozial- oder Notstandshilfe, Pensionen (im Durchschnitt 80 Euro pro Monat) – sie sind zu gering, um den Absturz ganzer Familien in Armut und Obdachlosigkeit zu verhindern.

Im Nachtasyl „Pater Jordan“ der Caritas im westrumänischen Temeswar finden sich jeden Abend mehr Menschen ein, als das Heim eigentlich aufnehmen kann. Aber draußen muss in diesen eisigen Winternächten niemand bleiben. Irgendein Platz wird immer gefunden, und sei es auf einem Sessel.

Marcu verbringt seit Jahren jede Nacht hier. In der Früh, wenn die Obdachlosen das Asyl verlassen müssen, packt er seinen geliebten Stoffhasen und pilgert in die Bibliothek. Arbeiten wird er nie können, und auch einen Platz gibt es für solche wie Marcu in den staatlichen Betreuungsanstalten Rumäniens nicht. Aufgewachsen in einem der berüchtigten Waisenheime der Ceausescu-Diktatur, wo Kinder wie Gefangene gehalten und misshandelt wurden, fand er sich nie in der freien Welt zurecht. So wie Marcu gibt es in Rumänien Hunderte Waisenheim-Opfer, die das Erlebte nie verwinden konnten und auch vom EU-Staat Rumänien vergessen wurden.

Überweisungen

Die weltweite Wirtschaftskrise des Jahres 2008 hat noch einmal alles schlimmer gemacht. Viele Überweisungen von Auslandsrumänen nach Hause blieben aus, die Folge war die nächste Auswanderungswelle. Auch die Caritas, seit 25 Jahren im Land engagiert, blieb davon nicht verschont. „Vor zwei Jahren haben wir ein Zehntel unseres Pflegepersonals ans Ausland verloren“, schildert György Peter in der Stadt Targu Mures. Einer ihrer besten Psychologen etwa ging nach Deutschland, um dort als Nachtwächter zu arbeiten. „Dann haben wir uns gefragt: Schauen wir zu oder machen wir was dagegen?“ Und so entwickelte die Caritas ein Arbeitsmodell, wo Pfleger für drei Monate einmal pro Jahr in die Schweiz arbeiten gehen und dort nebenbei auch Schulungen machen. Seither ist Auswandern kein Thema mehr: „90 Prozent der Leute emigrieren nicht, weil sie Lust haben, sondern weil sie müssen“, sagt Peter.

SPENDEN

Mit drei Euro schenken Sie einem Kind in Osteuropa Verpflegung für einen Tag. Kontonr.: Erste Bank 012-34560, BLZ 20110, Kennwort: Kinder in Not

Auf Worte wie „Sozialtourismus“ reagiert Caritas-Direktor Michael Landau unwirsch. „Nicht weniger, sondern mehr Solidarität innerhalb Europas“ fordert er angesichts der noch immer großen Armut etwa in Rumänien. 25 Jahre liegt dort die kommunistische Diktatur zurück, doch die Armut, die besonders die älteren Menschen und die Kinder betrifft, ist meist geblieben. Landau über

... den notwendigen langen Atem Seit Ende der totalitären Systeme 1989 hat sich viel zugunsten der Kinder gebessert. Weniger Kinder werden in Heime abgeschoben, sie gehen früher in eine Schule. Aber noch immer sind viele Kinder in Gefahr, vergessen zu werden. Die UNICEF nennt sie die „unsichtbaren Kinder“. Das sind Sozialwaisen oder Kinder, die von ihren im Ausland arbeitenden Eltern zurückgelassen wurden. In Rumänien lebt jedes zweite Kind in Armut.

... die bei uns heftig geführte „Sozialtourismus“-Debatte Für uns als Caritas ist klar: Wir brauchen mehr, nicht weniger Europa. Und wir brauchen eine größere Behutsamkeit in unserer Sprache, eine Abkehr von Kampfbegriffen wie „Sozialtourismus“. Europa darf nicht nur eine Wirtschaftsunion sein, sondern muss auch eine Solidaritätsunion werden. Und es darf nicht sein, dass die Schwächsten für eine Wirtschaftskrise bezahlen, die sie nicht verursacht haben. Wir fordern mehr europäische Mittel für die Armutsbekämpfung und die Armutsvermeidung. Sparen alleine darf es nicht sein. Wir fordern eine Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins. Dabei sind nicht nur die Staaten, sondern auch der Einzelne und die Zivilgesellschaften gefordert. Die EU hat nach der Ostintegration die Hand der osteuropäischen Länder sehr leicht losgelassen.

... die Ängste vor einer Massenzuwanderung aus Rumänien oder Bulgarien Es geht uns erst dann gut, wenn wir auch offene Augen und Ohren haben für diejenigen, denen es nicht so gut geht. Nichts hemmt solidarisches Handeln so sehr wie Angst. Aber wir wollen dennoch zum Blick über den Tellerrand ermutigen. Es ist notwendig zusammenzustehen, in Österreich und in Europa. Und wir sollten uns auch die Frage stellen: Was macht uns ein Stück mehr zum Menschen? Diese Verantwortung füreinander, sie macht uns reicher als ein paar zusätzliche Nullen auf dem Konto.

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