Armenische Überlebenskünstler

Pralles Leben in Jerewan: Eine junge, gut ausgebildete Bevölkerung hätte gerne mehr Europa – bekommt aber jetzt mehr Russlan.
Moskau hält Armenien am Gängelband, doch in Jerewan übt man sich in Pragmatismus.

In den gut besuchten Straßencafés nahe der Jerewaner Oper ist kaum noch ein freier Platz zu finden. Die lauen Abende vermitteln mediterranes Flair, im Zentrum der armenischen Hauptstadt schimmern die rötlich-grauen Tuffbauten geheimnisvoll in der untergehenden Sonne. Kaum etwas würde hier im fröhlichen Getümmel abwegiger erscheinen als Gedanken an die Kämpfe in der weit entfernten Ostukraine. Doch Liana zieht die Stirn in Falten: "Wir hier haben nur Glück gehabt. Was heute in der Ukraine geschieht, das hätte bei uns in Armenien genauso passieren können."

Denn ebenso wie die Ukraine hatte auch die kleine Kaukasusrepublik jahrelang mit der EU auf ein umfassendes Handelsabkommen hingearbeitet. "Vor allem wir Jungen haben so sehr darauf gesetzt, wir sind Europäer", sagt die in Deutschland ausgebildete Soziologin, die auf Wirtschaftsimpulse für das bitterarme Armenien gehofft hatte.

Doch mit einem Schlag kam alles anders. Als Armeniens Präsident Sargsyan vergangenen September Moskau besuchte, vollzog er überraschend eine totale Kehrtwende: Jerewan werde nicht dem EU-Assoziierungsabkommen beitreten sondern Wladimir Putins Lieblingsprojekt, der Eurasischen Zollunion. Moskau statt Brüssel lautet seither die Devise der Staatsführung in Jerewan.

Armenische Überlebenskünstler
Armenien
"Es gab Proteste, aber die wurden rasch niedergeschlagen", erinnert sich Hryar Manukyan. Der Wirtschaftsstudent ist bis heute empört, die große Mehrheit der Armenier aber fand sich bald mit der pragmatischen Formel ab: Sicherheit statt Wirtschaftsentwicklung. Dem aber hält der 27-jährige Hryar entgegen: "Wir konnten gar nicht wirklich wählen."

Denn nicht nur die 100-prozentige Gas-Abhängigkeit von Russland erinnert Armenien ständig daran, wer in der kleinen Ex-Sowjetrepublik den Ton angibt. Ohne die Lieferungen der russischen Gazprom wird in den armenischen bitterkalten Kaukasuswintern keine Wohnung warm, arbeitet Armeniens altersschwaches Atomkraftwerk nicht eine Stunde.

In Russland am Bau

"Wir müssen Freunde mit Russland sein", bringt es Bankdirektor Ashof Osipyan auf den Punkt. Leidenschaftslos rechnet der Chef der Ararat-Bank vor: Fast zwei Milliarden Dollar – ein Fünftel der Wirtschaftsleistung des Landes – haben im Armenier im Ausland 2013 an die Heimat zurücküberwiesen. Der Großteil dieses Geldes kommt aus Russland: 1,5 Millionen Armenier hatten das wirtschaftlich darniederliegende Land mit heute nur noch drei Millionen Einwohnern in den vergangenen 20 Jahren verlassen, um sich in Russland vorwiegend als billige Lohn- und Bauarbeiter zu verdingen. Schon mehrmals drohte Moskau, die Armenier wieder nach Hause zu schicken – für die Kaukasusrepublik eine Katastrophe. Schon jetzt ist ein Fünftel der Bevölkerung arbeitslos. Wer einen Job hat, verdient selten mehr 300 Euro.

Auch Hryar wird gehen, allerdings nach Prag. Dort will der junge Armenier sein Studium vollenden – Rückkehr ungewiss. Vermissen wird er, wie er zugibt, auch den vertrauten Blick auf den Ararat. Von jedem Hügel Jerewans ist der gewaltige, 5137 Meter hohe Schicksalsberg der Armenier zu sehen. Zum Greifen nahe liegt er da – und ist doch unerreichbar. Der schneebedeckte Gipfel befindet sich auf türkischem Boden. Die Grenzen aber sind seit 20 Jahren zu, das Verhältnis unter den Nachbarn wegen des von der Türkei geleugneten Völkermordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ist vergiftet. Auch die Grenzen zum Nachbarn Aserbaidschan sind dicht – seit dem Krieg um die armenische Enklave Berg-Karabach.

Ihre einzigen Sicherheitsgarantien gegenüber den beiden großen, schwierigen Nachbarstaaten sehen auch die liberalsten Armenier nur in Russland. "Von der EU war in dieser Hinsicht nie etwas zu erwarten", sagt auch Liana. Und so nimmt auch die junge Soziologin es widerspruchslos als Faktum hin, dass Tausende russische Soldaten im machtlosen, isolierten, kleinen Armenien stationiert sind. "Die Russen sollen uns vor den Nachbarn schützen."

Freie Tage hat Laura Khachatryan so gut wie nie, Urlaub kennt die 50-jährige Armenierin nicht. Sieben Tage die Woche, jeden Morgen ab sieben Uhr Früh steht die schmale Frau zusammen mit ihrem Sohn und zwölf Angestellten in ihrer Bäckerei und arbeitet. Die Mühen sind ihr nicht anzusehen, wenn sie an der Seite ihres Sohnes Armen durch den Betrieb in einem Vorort der armenischen Hauptstadt Jerewan führt und Laura kaum älter als der 27-Jährige wirkt.

Der ganze Stolz der armenischen Geschäftsfrau gilt dem eben erworbenen Gas-betriebenen Backofen. "Wir sparen unglaublich viel Energie und dadurch sehr viele Kosten", sagt sie. Doch auch wenn sie ihr neues Glanzstück nur gebraucht kaufen konnten, hätten sich die Kachatryans den Ofen nie ohne einen Kredit leisten können.

Von Armeniens Geldinstituten aber war keine Unterstützung zu bekommen: Zu hohes Risiko für die ohnehin finanzschwachen Banken des Landes, viel zu hohe Zinsen für die Kleinunternehmer.

Die lokale Ararat-Bank vermittelte der Bäckerfamilie schließlich zwei Kredite in Höhe von umgerechnet 45.000 Euro. Das Geld dafür aber wurde aus dem European Fund for Southeast Europe (EFSE) bereitgestellt – einem zweckgebundenen Fonds, an dem auch die Oesterreichische Entwicklungsbank (OeEB) beteiligt ist.

Dachfonds

Über diesen Dachfonds, der streng wirtschaftlich kalkuliert, vergibt die Entwicklungsbank Kredite an Kleinst- und Kleinunternehmer in 16 Staaten Ost- und Südosteuropas. 40 Millionen Euro an EFSE-Krediten flossen so im Vorjahr in das bitterarme Armenien. Ein kleiner Beitrag für ein Land, dessen Wirtschaft nicht und nicht in die Gänge kommt. Das Plus der vergangenen Jahre beschränkt sich auf die Hauptstadt, auf dem Land lebt immer noch mehr als die Hälfte der Bewohner unter der Armutsgrenze. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ist arbeitslos. Wer Arbeit hat, verdient kaum mehr als umgerechnet 300 Euro.

Ein Schicksal, das die zweifache Mutter und Witwe Laura Khachatryan ihren Kindern unbedingt ersparen wollte. "Ich bin sehr zufrieden", zieht sie Bilanz über die vergangenen Jahre. Begonnen hatten sie und ihr Mann buchstäblich mit nichts. Als die UdSSR 1991 zusammengebrochen und Armenien als kleine, von inneren Kriegen erschütterte Ex-Sowjetrepublik zurückgeblieben war, "hatten wir kein Geld, kein Material, keine Arbeiter, überhaupt nichts", erinnert sich Laura. Jahrelang kämpfte das Bäckerpaar ums Überleben. Heute ist Laura die größte Arbeitgeberin im Vorort Haghtanak. Und jeder Armenier, der hier in ein Brot oder Weckerl beißt, hat bei ihr gekauft.

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