Nächster Job: Flüchtlingskanzlerin

Angela Merkel schlägt neue Töne an: „Wir schaffen das!“
Analyse: Merkel prescht in der Flüchtlingsfrage nach vor – auch in Brüssel wird sie das müssen.

Merkeln", das Jugendwort des Jahres 2015, ringt der deutschen Kanzlerin kein Lächeln ab. Das Aussitzen von Problemen, eine mittlerweile im Wortschatz verfestigte Eigenart Angela Merkels, hat die mächtigste Frau des Kontinents schon durch so manche Krise getragen. Auch in der drängenden Flüchtlingsfrage hat die Kanzlerin lange "gemerkelt". Bei ihrer traditionellen Pressekonferenz nach der Sommerpause wollte sie das Wörtchen deshalb lieber nicht kommentieren.

Nein, Merkel hat stattdessen etwas anderes gemacht. Sie hat endlich ein Machtwort gesprochen. "Wir schaffen das!", sagte sie laut und überraschend emotional: Ihr neues Credo im Umgang mit jenen 800.000 Flüchtlingen, die Deutschland heuer zu ihrer neuen Heimat machen wollen. In drei Wochen wird ein Maßnahmepaket verabschiedet, das vor allem Bürokratie abbauen soll. Darauf warten vor allem jene sehnlichst, die die Hilflosigkeit der Politik seit langem kompensieren: Freiwillige, Ehrenamtliche, engagierte Bürgermeister, die wegen starrer Vorschriften nicht rasch und flexibel agieren können. Ein Notfallplan, ja, aber immerhin.

"Deutsche Gründlichkeit ist super. Aber jetzt ist deutsche Flexibilität gefragt." Merkels Worte waren emotional, und sie waren bewusst gewählt. Nicht von ungefähr verglich sie die jetzige Herausforderung mit jener, die es nach Fukushima oder bei der Bankenrettung 2008 zu bewältigen galt. In beiden Fällen hatte Merkel nämlich bewiesen: Im Krisenmodus kann ich anders. Fukushima führte zu Atomausstieg und Energiewende, die Bankenrettung brachte den Fiskalpakt und Deutschland eine Führungsrolle in Europa. Ein politischer wie gesellschaftlicher Gewinn.

Doppel-Verantwortung

Diese europäische Führungsrolle wäre auch jetzt gefragt. Denn Deutschland hat in Sachen Flüchtlinge zweierlei Verantwortung: Einerseits die historische, die eine stetige Offenheit gegenüber Vertriebenen und die Aufnahme von Flüchtlingen zur Pflicht macht. Die dunklen Reflexe, die jetzt wieder hochkommen, erinnern daran – die Leerstellen, die die Politik durch ihre Schockstarre geschaffen hat, wurden plötzlich von rechts gekapert. Das darf nicht sein, das muss sich ändern, weiß Merkel.

Andererseits hat die deutsche Kanzlerin eine neue Verantwortung, denn seit der Griechen-Krise gilt gemeinhin das "Merkel wird’s schon richten"-Motto. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben, indem sie Athen zur persönlichen Angelegenheit machte. Dass sie konsequenterweise jetzt Haltung zeigen und die Staaten ins Boot holen muss, die eine europäische Verantwortung negieren, ist ihr jedoch klar: "Europa als Ganzes muss sich bewegen." Andernfalls werde die EU "nicht mehr das sein, was wir uns vorstellen."

Preis der Untätigkeit

Wegducken, das geht nicht mehr. Denn mit Untätigkeit hat man bisher kaum etwas erreicht – außer, dass viele Flüchtlinge nach Deutschland drängen. Die De-facto-Aussetzung von Dublin III, die ja Grund für den Ansturm von Flüchtlingen auf Züge nach Deutschland war, fußt nämlich genau darauf: Weil die Vereinbarung nicht funktioniert, wie Merkel nun unumwunden zugibt, umgeht man sie in Deutschland einfach – und bekommt dafür sogar Applaus aus Brüssel.

Die Flüchtlingsfrage lässt sich aber weder mit Umgehungen noch Schnellschüssen lösen. Abertausende Flüchtlinge stehen jetzt vor Europas Toren. Und viele davon werden bleiben, das hat auch Merkel selbst erkannt. Nicht Energiewende, Bankenrettung oder Griechenland, die Flüchtlingskrise wird die Herkulesaufgabe in Merkels Ära sein. Bei ihrer Lösung kann sie vielleicht auch daran arbeiten, dass das Wörtchen "merkeln" nicht ewig an ihr haftet.

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