Amok-Nacht: Horror-Tweets, Massennotrufe, Polizeiprofis

Polizisten in Spezialausrüstung
Zuerst wurde informiert, dann spekuliert und schließlich nur verunsichert und gehetzt. Die sozialen Medien wurden zum Problem.

Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg. Und jetzt München. Während die Behörden Freitagabend lange Zeit im Dunkeln tappen, was eigentlich in der bayrischen Hauptstadt vor sich geht, verbreitet sich insbesondere in den sozialen Medien wie Twitter und Facebook massenhaft Hysterie, Panik und Angst.

Kurz vor 18 Uhr am Freitag treffen die ersten Meldungen über Schüsse im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) im Norden Münchens in den sozialen Netzen ein. Die Polizei ist rasch vor Ort, im Laufe des Abends werden es fast 2300 Sicherheitskräfte sein, inklusive der Antiterror-Einheit GSG9.

Live-Berichte

Gegen halb sieben bestätigt die Münchner Polizei via Twitter: "Im Moment haben wir einen großen Polizeieinsatz am OEZ. Bitte meiden Sie den Bereich um das Einkaufszentrum." Einige Münchner vor Ort starten über die App Periscope und den Live-Video von Facebook mit Video-Direktübertragungen in Echtzeit rund um das OEZ. Zahlreich sind die Fotos vom Tatort, die hochgeladen werden.

Die Videos und Bilder zeigen gespenstische Szenen. Polizisten, die sich zu viert mit entsicherten Waffen langsam vorwärts bewegen, suchend, von wo die Bedrohung kommt.

Ab Minute eins nehmen die Bürger im Netz an den aktuellen Entwicklungen teil. #prayformunich, #prayforgermany. Und sehr schnell auch: #terror.

Nach dem Massenmord vor zehn Tagen in Nizza und dem Axt-Angriff in einem bayrischen Zug, beide mit IS-Hintergrund, sind sich immer mehr Internet-User sicher, dass nun München Ziel eines Terroranschlags ist. Twitter ist ein Echtzeit-Kurznachrichtendienst, den jeder für die Verbreitung seiner Wahrheit nutzen kann. Neue Gerüchte und durch nichts fundierte Anschuldigungen überschwemmen jetzt die Kanäle.

"Der Terror ist wieder zurück! Wann macht Frau Merkel endlich die Grenzen dicht!" twittert die AfD-Sachsen.

Längst sind sich immer mehr sicher, dass Islamisten am Werk sind.

Immer mehr Bilder vom Tatort werden im Netz verbreitet, einige Medien übernehmen diese. Ungeprüft. Besonders dreist jenes Foto aus einem Einkaufszentrum, in dem Blut und Leichen zu sehen sind, mit dem Verweis auf das OEZ in München (siehe Bild links). Tatsächlich stammt das Bild von einem Raubüberfall nahe Johannesburg in Südafrika.

Horror-Meldungen

Augenzeugen berichten von zwei Männern, die am Tatort in ein Fahrzeug springen und davonrasen. Ein folgenschweres Gerücht. Die Polizei muss über viele Stunden davon ausgehen, dass es sich um zumindest drei Täter handeln dürfte. Neue Horror-Meldungen poppen auf: Am Stachus, einem beliebten Platz in der Münchner Altstadt, sollen Schüssen gefallen sein. In der Nähe des U-Bahnhofs am Marienplatz eine weitere Schießerei, wird auf Twitter verbreitet. Die Angst wird immer größer. Zwischen 18 und 24 Uhr zählt die Münchner Polizei am Freitagabend 4310 Notrufe, vier Mal so viele wie normal.

Auch Journalisten lassen sich in Live-Berichten vor lauter Aufregung dazu hinreißen, wild zu spekulieren, was passiert ist.

Gegen halb zehn Uhr abends bittet die Polizei via Twitter: "Bitte haltet Euch mit Spekulationen & Diskussionen!!! hier momentan zurück. Damit würdet Ihr uns sehr unterstützen." Denn, wie erst weit nach Mitternacht klar wird, waren es weder drei Täter. Noch fielen am Stachus oder beim Marienplatz Schüsse. Tatsächlich behindern die vielen falschen Horror-Meldungen den Einsatz.

Einer bleibt in der Nacht trotz der Unübersichtlichkeit des Geschehens gelassen: Marcus da Gloria Martins. Der Münchner Polizeisprecher war einer der wenigen, die trotz des Chaos’ Ruhe bewahrten. Um 22:34 Uhr am Freitagabend tritt er zum ersten Mal vor die Presse, beantwortet ruhig jede Frage, auch wenn dies redundant sind. Oder er sagt: "Das kann ich ihnen nicht sagen, weil da müsste ich raten. Und das wäre hochgradig unseriös."

Aber auch das: Als München stillstand am Freitagabend, als die Öffis nicht mehr fuhren und die Lage unüberschaubar war, boten Hunderte Münchner Fremden einen Unterschlupf an. Unter dem Hashtag #offenetür konnten jene, die nicht mehr nach Hause kamen und nicht wussten, wohin, ein Obdach in München finden. Das wurde ein gefeiertes Zeichen der Solidarität in einem Moment, als Angst das Leben beherrschte.

Da wurden die sozialen Medien ihrem Namen endlich gerecht.

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