Alle reden wieder von Krieg

Russland/Ukraine: Beide Seiten rüsten auf, Truppen werden bewegt, mehr Gefechte, zunehmende Spannungen.

Bei der Nachricht aus dem Küchenradio verstummen die Tischgespräche: "Armee in volle Alarmbereitschaft versetzt", sagt die Sprecherin eines ukrainischen Regionalradiosenders. "Wegen der Krim", führt sie aus. Die ist zwar von hier, an der Grenze zu Polen, weit entfernt. Aber gerade aus dieser Region sind viele junge Männer an vorderster Front im Osten der Ukraine stationiert. Und daher braucht diese Nachricht einige Sekunden, um zu sickern.

Entlang der Frontlinie zu den abtrünnigen Gebieten im Osten des Landes hat sich in den vergangenen Wochen die Lage stetig verschlechtert. Und dann die Nachrichten aus der von Russland annektierten Krim: Ein von ukrainischen Geheimdiensten orchestrierter Terroranschlag auf die Infrastruktur der Krim sei vereitelt, bei Gefechten mit Spezialkommandos seien auch russische Soldaten getötet worden. Kiew fördere Terrorismus auf der Krim, lautet der Vorwurf seitens des Kreml. In lokalen Medien auf der Krim wurde indirekt auf die Minderheit der Tataren hingewiesen, die für den Terrorakt verantwortlich sei.

"Frei erfunden"

Der Wahrheitsgehalt solcher Meldungen ist kaum zu überprüfen. Von ukrainischer Seite heißt es, es handle sich um eine "frei erfundene Geschichte". Und außerdem: Viel eher sei es Russland, das Terroristen auf ukrainischem Territorium finanziere und ausrüste. Im Sprachgebrauch Kiews handelt es sich bei den Russland-treuen Milizen in der Ostukraine um "Terroristen", die von Moskau personell und materiell unterstützt würden. Und schließlich gehöre die Krim völkerrechtlich zur Ukraine. So gesehen sind es die russischen Behörden auf der Krim, die aus Sicht Kiews illegitime Macht ausüben.

Mehr Gefechte

Die jüngste Eskalation aber setzt eine Spirale fort, die sich seit Wochen zunehmend schneller dreht. Zunächst waren es Berichte über vermehrte Truppenbewegungen aus Russland in die abtrünnigen Gebiete, die Spekulationen über eine bevorstehende Eskalation anheizten. Dann Meldungen über große russische Manöver nahe der Grenze zur Ukraine. Schließlich nahmen auch die Gefechte entlang der Frontlinie im Osten markant zu – und laut Wortmeldungen aus Kiew war von einem möglichen offenen Krieg die Rede. Kein Wort mehr von Waffenstillstand oder dergleichen. Viel eher von großen Truppenbewegungen sowohl im Osten als auch auf der Krim.

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Und weil es seit Langem wieder vor allem in bewohnten Gebieten zu Kämpfen kam, stieg auch die Zahl der Toten und Verwundeten zuletzt rasant.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bestätigt das Wiederaufflammen schwerer Gefechte: Weitere Kämpfe seien wahrscheinlich. Schließlich gebe es auf beiden Seiten steten Nachschub von Munition und eine regelmäßige Ablösung von Soldaten, sagte der stellvertretende Leiter des OSZE-Beobachtereinsatzes, Alexander Hug.

Und nun auch noch die Krise um die Krim einhergehend mit Berichten über Grenzgefechten, was erstmals direkte Zusammenstöße zwischen russischen und ukrainischen Kräften bedeuten würde. Russland nennt die Truppen im Osten der Ukraine "lokale Volksverteidigungskräfte", zu denen man keine Verbindung habe. Und in Moskau führt man schon eine mehr oder weniger offene Diskussion über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland.

Da ist er also wieder: Der Krieg im Osten als Hauptthema an den Küchentischen und auf den Datschen quer durchs Land.

Zuletzt waren es eher die Wirtschaftskrise, der Verfall der Währung Griwna, die niedrigen Getreide- und Erdäpfelpreise für Bauern und ganz im Westen auch die zwischenzeitlich geschlossene Grenze zu Polen, die die Themenhoheit hatten. Der Krieg im Osten schien endlich in weite Ferne gerückt zu sein. Nur die frischen Blumen auf Soldatengräbern und die kleinen Denkmäler für die Gefallenen aus der Region auf Hauptplätzen in Dörfern und Städten erinnerten überall daran.

"Nur sticheln"

Die Schrecksekunde ist vorbei: "Was wollen sie mit der ganzen Ukraine?", fragt Sonja, eine ältere Dame. "So viel Tod, so viel Verderben." "Sie wollen nicht die Ukraine, sie wollen nur sticheln", antwortet Stepan. Er sitzt im Rollstuhl im fünften Stock eines Wohnblocks ohne Lift und wacht über die Runde am Tisch, dass auch nur ja keiner ein leeres Glas vor sich hat. Draußen fährt ein Lautsprecherwagen vorbei und kündigt einen Zirkus an, der in der Stadt ist.

Die jüngsten Truppenbewegungen zeigen: Russland macht kein Geheimnis um seine Militärpräsenz entlang der Grenze. Drei neue Divisionen mit je rund 10.000 Soldaten wurden entlang der russischen Westgrenze aufgebaut. Offiziell sind sie die Reaktion auf die Stationierung von 4000 NATO-Soldaten im Baltikum. Tatsächlich liegen aber alle drei Basen – in Rostow am Don, Bogutschar und bei Smolensk – entlang der Grenze zur Ostukraine.

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Botschafter Pyatt
Als US-Botschafter in Kiew hat Geoffrey Pyatt in den letzten drei Jahren einen diplomatischen Schlüsselposten in der Krise besetzt. Mit dem KURIER sprach er über...
... die militärische Lage Das ist kein eingefrorener Konflikt, wie viele sagen. Es gibt täglich mehr Verletzungen des Waffenstillstandes im Osten des Landes. Wir bekommen verlässliche Informationen über modernste russische Hightech-Waffen im Einsatz, vor allem im Bereich der elektronischen Kriegsführung, also etwa Drohnen neuesten Typs oder andere Aufklärungstechnik. Diese Waffen werden nicht von ehemaligen ukrainischen Kohlearbeitern bedient, sondern von bestens trainierten russischen Soldaten.
Für die USA bleibt es Grundsatz, die illegale Okkupation der Krim durch Russland nicht anzuerkennen.
... die Hilfe der USAWir waren immer sehr transparent, was unsere Unterstützung für die ukrainische Armee angeht. Wir haben immer nur Militärmaterial, aber nie Waffen geliefert. So unterstützen die USA dieses Land, um ihr souveränes Territorium gegen eine russische Aggression zu verteidigen. Es gibt also keine US-Waffenlieferungen in die Ukraine. Es gibt keine privaten US-Söldner in der Ukraine: Das ist alles von der russischen Propaganda erfunden.
... politische ReformenDie Ukraine hat viel mehr Fortschritte gemacht, als man ihr zugesteht. Es gab eine erstaunliche Wandlung, etwa was die Gründung einer neuen Polizei betrifft oder die Änderungen im Energiesektor oder im Justizsystem.
Es wird ein harter Weg. Das Land kämpft immer noch mit dem zerstörerischen Erbe der UdSSR und hat 25 Jahre seit der Unabhängigkeit mit halbherzigen Reformen vergeudet. Jetzt aber ist es auf Kurs. Ich höre immer wieder, gerade von europäischen Kollegen, dass sich in der Ukraine nichts verändert hat. Das ist Unsinn. Die Ukraine muss deshalb beweisen, wie ernst sie den Kampf gegen Korruption nimmt. Sie muss ein paar Verantwortliche ins Gefängnis schicken.
... Beziehungen zur EUKiew ist eine der am meisten pro- europäisch eingestellten Hauptstädte der Welt, auch weil die Ukrainer wissen , was die Alternativen, das russische oder das weißrussische Modell, bedeuten. Ein EU-Beitritt der Ukraine ist langfristig auch im Interesse von West- und Mitteleuropa: Also ein Land, das in EU-Institutionen verankert ist, das in Richtung Rechtsstaat geht, ein großer Markt für Konsumgüter ist und eine billiger Platz für industrielle Produktion.

Von Konrad Kramar

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