"Achtung! Hier Gleiwitz"

1. September 1939: Beim Überfall auf Polen reißen deutsche Soldaten einen Schlagbaum an der Grenze nieder. Später verkündet Adolf Hitler vor dem Berliner Reichstag den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Einen Tag nach dem inszenierten Überfall auf einen Radiosender begann vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg.

Hier hat er also stattgefunden – der inszenierte Überfall auf den Sender Gleiwitz: Ein großer Raum mit Sendeanlage, einem Antennenpult und einem schwarzen Schaltschrank. An der Wand eine alte Siemens-Uhr, der Stundenzeiger zeigt auf die Acht.

Zu dieser Uhrzeit, am Abend des 31. August 1939, drangen SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks und weitere SS-Männer in Zivil in das Gebäude des deutschen Senders ein und überwältigten das technische Personal. "Der Hergang ist bis heute nicht ganz geklärt", meint Andrzej Jarczewski, der Verwalter des heutigen Museums.

Eine Nachricht auf Polnisch sollte verlesen werden, um das Ausland zu überzeugen, dass hier eine Provokation von polnischer Seite stattfinde. Doch beinahe misslang der Coup, denn das Sendegebäude neben dem 111 Meter hohen Sendeturm für Mittelwelle hatte gar kein eigenes Studio, sondern strahlte vor allem das Programm des Reichssenders Breslau aus.

"Achtung! Hier Gleiwitz"

Jarczewski holt ein mobiles altes Mikrofon mit einer Stehplatte und steckt es in eine Buchse. Es ist das "Gewittermikrofon", das das Ausschalten des Radioprogramms ankündigte, wenn Blitzschäden bei dem Sendeturm aus Lärchenholz vermieden werden müssen. Dieses hat die SS gefunden oder mittels Zwang aufgetrieben, einer der Agenten kann nun den vorbereiteten Text "Achtung! Hier Gleiwitz, der Sender befindet sich in polnischer Hand" durchgeben, was auch in London und Paris gehört wird.

Der als Pole camouflierte SS-Mann verlas noch Weiteres, doch vermutlich, so der pensionierte Elektro-Ingenieur Andrzej Jarczewski, stoppte ein technischer Mitarbeiter die Übertragung heimlich mittels eines Schalters. Die Flüchtenden SS-Leute hinterließen einen Toten, einen propolnischen Oberschlesier, der als mutmaßliches Opfer der Attacke vor das Sendegebäude gelegt wurde.

Am Morgen des 1. September schoss dann das Schulschiff "Schleswig Holstein" auf das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte in Danzig. "Seit 5.45 wird zurückgeschossen", so stimmte Adolf Hitler die deutsche Bevölkerung auf den Angriff auf Polen ohne Kriegserklärung ein, den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die deutschen Medien berichteten ausführlich über die "polnische Provokation" in Gleiwitz.

Der Tatort, der Sender Gleiwitz – die Stadt liegt heute in Polen und heißt Gliwice – wurde von der SS-Größe Reinhard Heydrich mit Bedacht gewählt. Sendeturm und Sendegebäude standen damals rund sieben Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt. Gleiwitz wirkte als wichtiges Instrument im Kampf um die Herzen der Deutschen auf der polnischen Seite – das Industriegebiet Oberschlesien war seit 1922 zwischen Deutschland und Polen geteilt.

Im polnischen Katowice (deutsch: Kattowitz) sendete man hingegen in deutscher und polnischer Sprache und versuchte, die oft zweisprachigen Oberschlesier von polnischen Anliegen zu überzeugen. Der Nationalitäten-Riss verlief oft durch Familien.

"Keine Euphorie"

So wechselte der Onkel von Friedrich Sikora in den 20er-Jahren auf die polnische Seite, da er sich als Pole fühlte. Sikora ist heute 85 Jahre alt, ein pensionierter Bauingenieur und lebt in einem Einfamilienhaus nahe des Senders. Er engagiert sich heute im Rahmen der deutschen Minderheit für mehr Deutschunterricht in der Region.

"Achtung! Hier Gleiwitz"
Friedrich Sikora (l.) und Felix Lipski
Als zehnjähriger Junge sah er schon eine Woche vor dem Angriff die Soldaten aufmarschieren, als es dann losging, "war in Gleiwitz von Euphorie nichts zu spüren". Sein Bekannter, Felix Lipski, heute 87, lebte bei Tarnowitz, auf der polnischen Seite der Grenze. Er ging auf die polnische Schule und mit seiner deutschen Mutter in die deutschsprachige Messe. Letzteres wurde 1939 verboten, nachdem die Spannungen zwischen Polen und Deutschland zugenommen hatten: Hitler hatte einen "Korridor" durch polnisches Territorium zur Exklave Ostpreußen gefordert.Die Atmosphäre der politischen Forderungen 1939 prägte auch den Schulalltag von Lipski. "Ich stelle dir jetzt ein Ultimatum. Wenn du mir nicht gleich das Buch zurückgibst, dann musst du mit Konsequenzen rechnen", hieß es etwa.

Rache und Versöhnung

Und Konsequenzen gab es – Polen wurde innerhalb von sechs Wochen besiegt und bis Anfang 1945 von Deutschland besetzt. Bei den Kriegshandlungen, durch Massenerschießungen, Lagerhaft und Zwangsarbeit kamen etwa sechs Millionen polnische Bürger um, davon waren etwa drei Millionen Juden.

Gleiwitz, als östlichste deutsche Stadt in Oberschlesien, litt Ende Jänner 1945 unter der Rache der Roten Armee, die meisten deutschen Einwohner flüchteten oder wurden von Polen vertrieben.

Der Sendeturm überstand den Krieg unbeschadet und wurde später im Kalten Krieg eingesetzt – er war bis 1956 Störsender gegen Radio Free Europe, das vom Westen aus gegen den Kommunismus ansendete.

Gestern, Sonntag, fand vor dem Turm eine neue Transmission statt, eine geistliche diesmal. Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Rainhard Marx, sendete zusammen mit seinem polnischen Kollegen Stanislaw Gadecki eine Versöhnungsgeste. In beiden Sprachen.

Wie alles begann: Überfall auf Polen

Vor genau 75 Jahren, am 1. September 1939, überfiel das Deutsche Reich unter dem nationalsozialistischen Diktator Adolf Hitler ohne Kriegserklärung die Zweite Polnische Republik. Drei Tage später erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Im Zweiten Weltkrieg starben rund 55 Millionen Menschen, 35 Millionen wurden verwundet.

Aufgrund der besseren Bewaffnung und vor allem ihrer Luftüberlegenheit konnte die deutsche Armee rasch in Polen vorrücken. Am 17. September marschierte auch die Rote Armee im Osten des Landes ein. Denn nach dem Nichtangriffspakt (Molotow-Ribbentrop-Plan) vom 23. August 1939 sollte Polen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt werden. Am 6. Oktober 1939 kapitulierten die letzten polnischen Truppen. Die Bündnispartner Frankreich, Großbritannien und Rumänien griffen nicht in die Kampfhandlungen ein.

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