Wunsch nach "sicheren Spielen" ist gescheitert

Wunsch nach "sicheren Spielen" ist gescheitert
Eigentlich sollte man meinen, Rio de Janeiro gehöre derzeit zu den sichersten Städten der Welt. 85.000 Polizisten und Soldaten wurden an die Copacabana geschickt, um während der Olympischen Spiele nicht nur terroristische Attentate zu verhindern. Vor allem möchte die Stadtverwaltung Negativschlagzeilen über Kleinkriege rivalisierender Drogengangs und gewalttätige Raubüberfälle unterbinden.

Allein im vergangenen Jahr kamen 1.500 Personen bei Gewaltverbrechen ums Leben. Zum Vergleich: In Wien waren es im gesamten Jahr 2015 20 Personen. Gewalt, Morde und Entführungen sind in Rio an der Tagesordnung. Daran wird anscheinend auch das gigantische Sicherheitsaufgebot während Olympia nichts Wesentliches ändern.

Auch wenn sich die Sechs-Millionen-Einwohner-Metropole der Welt zu den Olympischen Spielen in einer Postenkartenidylle präsentieren will: Trotz verstärkter Polizeipräsenz vergeht kaum ein Tag, an dem es keine Nachrichten über gewalttätige Raubüberfälle, Schusswechsel und Mordopfer gibt.

"Das ist aber kaum überraschend. Brasilien und Rio machen eine schwere Krise durch", erklärt Dario Sousa, Soziologe an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro, im APA-Gespräch. "Es kommt immer häufiger zu sozialen Unruhen und Protesten. Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit legt zu. Es gibt immer mehr Arme, die in die Kriminalität abrutschen, und mit dem Besuch von 11.000 Athleten und einer halben Million Olympia-Touristen Chancen sehen, an schnelles Geld zu kommen."

So wurden trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen sogar Olympia-Teilnehmer bereits Opfer von gewalttätigen Raubüberfällen. Mit vorgehaltener Pistole wurden der spanische Segler Fernando Echavarri und die deutschen Triathletinnen Rebecca Robisch und Sophia Saller ausgeraubt. Der belgische Judokämpfer Dirk van Tichelt musste sein Handy nicht ganz freiwillig einer Gruppe von mehreren Männern übergeben. Vergangene Woche wurde sogar Portugals Sport- und Bildungsminister Tiago Brandao vor seinem Hotel überfallen. Auch ein Bus, der Journalisten zum Olympia-Park bringen sollte, wurde attackiert. Und in der Nacht auf Sonntag wurden US-Schwimmstar Ryan Lochte und drei Teamkollegen bei der Heimfahrt von einer Party im Taxi überfallen.

Dabei scheine vor allem auch der Wunsch von Bürgermeister Eduardo Paes nach "sicheren Spielen" und das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte die Zahl von Todesopfern und die Spirale der Gewalt in die Höhe zu treiben, sagt Sandra Quintela, Koordinatorin des Instituto Politicas Alternativas para o Cone Sul (Pacs), der APA.

Die Menschenrechtsorganisation, die von der österreichischen Dreikönigsaktion der katholischen Jungschar unterstützt wird, steht mit dieser Meinung nicht allein da. Auch Amnesty International (AI) kritisierte bereits die Gewalt, mit der die Polizei vor allem in den Favelas für Ordnung sorgt. Fast jeden Monat sterben bis zu 40 Personen bei den Polizeiaktionen. Das sei ein Anstieg von fast zwölf Prozent, erklärt AI-Sprecherin Renata Neder.

Die Drogenmafia schlägt nicht weniger hart zurück. Am vergangenen Donnerstag erschossen die Mafiosi einen Polizisten in der Favela Vila do Joao. Danach fiel die Militärpolizei im Armenviertel ein. Mehrere Drogendealer wurden erschossen. Auch ein unbeteiligter 19-Jähriger kam ums Leben. Am selben Tag starb in einer anderen Favela ein 14-Jähriger bei einem Schusswechsel zwischen Polizisten und Dealern. Er stand zur falschen Zeit am falschen Ort.

Bereits wenige Monate vor Beginn der Spiele wurde wie schon vor der Fußballweltmeisterschaft 2014 die sogenannte "Befriedung" der Favelas nochmals intensiviert. "Die Befriedung sieht vor, regelmäßig mit 200 Beamten einer sogenannten Friedenspolizei UPP in die Favela einzufallen. Auf diese Art von Befriedung kann ich verzichten. Sie führt nur zu noch mehr Gewalt und Gegengewalt", meint Cosme Felippsen, dessen kleiner Bruder vor fünf Jahren beim Dealen für das Comando Vermelho von der Polizei erschossen wurde. "Er war fast noch ein Kind", sagt Cosme.

Der 23-jährige Brasilianer wohnt hoch oben in der Favela Morro da Providencia. Wie fast alle Armenviertel liegt auch Cosmes Favela auf einem der zahlreichen Berghügel der Stadt, wo Millionen Menschen in illegalen Stein- und Wellblechhütten hausen. Vom Flachdach seines Hauses aus konnte Cosme das Feuerwerk der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele gut verfolgen. Eigentlich trennen das Maracana-Stadion und die Favela gerade einmal zehn Autominuten. Doch zwischen der olympischen Glitzerwelt und Cosmes Realität liegen Welten.

"Die brutale Polizeigewalt bringt uns nicht weiter. Sobald die Polizisten nach den Olympischen Spielen wieder aus unseren Favelas verschwinden, kehren auch die Dealer und die Alltagskriminalität zurück. Wir brauchen hier Schulen, neue Abwasserrohre, Müllentsorgung und Ärzte. Erst wenn die Armut verschwindet, finden auch Drogenmafias keinen Nährboden mehr", sagt Cosme.

Unterdessen kritisieren viele Favela-Bewohner, dass plötzlich so viel Geld für 85.000 Soldaten und Polizisten da sei, während sie das restliche Jahr über angesichts der Gewalt der Drogenmafias sich selber überlassen seien. Die Stadt investiere nicht in die Favelas - weder in Sicherheit, noch Infrastruktur, so die Kritik. Im Gegenteil: "In einer Stadt mit immer weniger Platz versucht man die Armen aus ihren Favelas in Randbezirke zu vertreiben, damit teuer zu verkaufendes Bauland frei wird", ist sich Pacs-Koordinatorin Quintela sicher.

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