Im roten Wien wächst ein Bildungsproletariat

Die Schulen produzieren eine "verlorene Generation". Dank couragierter Lehrer kann die Politik nicht mehr wegschauen.
Josef Votzi

Josef Votzi

Dank couragierter Lehrer kann die Politik nicht mehr wegschauen: Im roten Wien gedeiht ein wachsendes Bildungsproletariat

von Josef Votzi

über die Missstände in den Schulen

Gestern langte ein besonders dramatisches Mail einer Volksschulpädagogin in der Redaktion ein: "Nicht nur in der Neuen Mittelschule sind die Missstände zum Schreien. Auch bei uns freut man sich schon, wenn drei Kinder in der Klasse sitzen, die vom Elternhaus gefördert werden, der deutschen Sprache mächtig sind und Manieren haben ." Das Mail ist namentlich gezeichnet. Die Lehrerin stimmte zu, dass ihre Aussagen via KURIER eine breite Öffentlichkeit finden. Für ihren Arbeitgeber, die demokratische Republik Österreich, will sie aber lieber anonym bleiben.

Nach dem dummdreisten Versuch des Bildungsministeriums, der couragierten Schuldirektorin Andrea Walach einen Maulkorb umzuhängen, fürchten Lehrer, die offen die Wahrheit sagen, mehr denn je Repressionen. Walach hatte in einer Reportage meines Kollegen Bernhard Gaul im Sonntag-KURIER unverdeckt beim Namen genannt, was trauriger Alltag ist. Ein Drittel ihrer NMS-Absolventen ist nach Ende der Schulpflicht "nicht vermittelbar": Eine "verlorene Generation", die mangels ausreichender Deutschkenntnisse ein Leben zwischen AMS und Sozialhilfe vor sich hat und sich jedes Jahr um mehr als zehntausend NMS-Absolventen vermehrt.

Lauter Weckruf statt dummdreister Maulkorb

Es ist hoch an der Zeit, das dahinterstehende Problem ins Auge zu fassen. In Wien wächst unter staatlicher Obhut ein neues Bildungsproletariat heran: Alleinerzieherinnen, die sich mit mehreren Jobs über Wasser halten und keine Energie haben, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern. Migranten zweiter oder dritter Generation, die ihr prekäres Leben an den Nachwuchs vererben: Familien, die von der Mindestsicherung leben und deren einziger Fixtermin der Schulbeginn der Kinder wäre. Mangels Sozialarbeitern wird es zunehmend Job der Lehrer, deren Kinder, sagt Walach, "per Telefon zu wecken: Du kommst jetzt in die Schule". Die Bildungsministerin brauchte fünf Tage, bis sie während eines UNO-Aufenthalts in New York Zeit fand, dem KURIER und damit Zehntausenden Eltern, Schülern und Lehrern Rede und Antwort zu stehen. Die zuständige Wiener Stadträtin, Sandra Frauenberger, kann vor Ostern "leider" dafür keine einzige Minute mehr entbehren. Das erinnert an die kindliche Augen-zu-, Ohren-zu- und Mund-zu-Haltung der Stadtregierung angesichts des Skandals, dass Islam-Kindergärten zur Indoktrination missbraucht werden.

Dabei sind auch in Wien einige längst weiter. Schul-Reportagen und Interviews bedürfen 2016 zwar nach wie vor der Genehmigung durch die Schulbehörde. Der neue Stadtschulrat-Chef, Jürgen Czernohorsky, setzt aber unverdrossen auf Glasnost. Auch nach dem versuchten "Maulkorb" für Andrea Walach gibt er grünes Licht für weitere Interviews. In einer offenen Gesellschaft sollte gerade Öffentlichkeit vor ungerechtfertigten Sanktionen schützen. Diesen Lernprozess haben freilich die meisten noch vor sich, die für die himmelschreienden Missstände in Familien und Schulen politisch verantwortlich sind.

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