Europa verbeugt sich, Hans-Dietrich Genscher

Der Liberale hat nicht nur an der deutschen Einheit mitgewirkt, sondern auch an die Zukunft gedacht.
Helmut Brandstätter

Helmut Brandstätter

Das Faszinierende an Hans-Dietrich Genscher war wohl seine Wandlungsfähigkeit vom FDP-Politiker mit schlicht innenpolitischer Agenda zum europäischen Staatsmann, der die Lehren der Geschichte verstand und seine Gesprächspartner nie überforderte. Beim abrupten Wechsel von Helmut Schmidts zerstrittener SPD zum damals noch belächelten CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl im Jahr 1982 spaltete Genscher seine kleine FDP. Bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit aber dachte er immer auch an die Folgen eines starken Deutschlands für Europa. Und argumentierte bis ans Ende seines Lebens für die Diplomatie des Gesprächs, gerade auch gegenüber Russland.

Die sozial-liberale Koalition, zunächst unter Willy Brandt, dann unter Helmut Schmidt, aber immer mit Genscher, war maßgeblich am Zustandekommen der Schlussakte von Helsinki beteiligt. Mitten im Kalten Krieg einigten sich Europäer, Russen und Amerikaner darauf, die Grenzen in Europa zu akzeptieren, aber auch die Menschenrechte zu achten. Das war der Ausgangspunkt für viele Bürgerrechtsbewegungen im Sowjetblock. Der "Wandel durch Annäherung", der durch Brandts Ostpolitik begonnen hatte, wurde aber auch durch den NATO-Doppelbeschluss beschleunigt, wonach der Westen vom Osten Abrüstung verlangte, inzwischen aber selbst Mittelstreckenraketen aufstellte. Das führte zum Ende von Schmidt/Genscher und zur Regierung Kohl/Genscher. Der Rüstungswettlauf, den US-Präsident Ronald Reagan betrieb, beschleunigte den Zusammenbruch des Kommunismus. Aber dann war es das Geschick von Kanzler Kohl und seinem Vize Genscher, nicht nur die deutsche Einheit zu erreichen, sondern den Frieden in Europa zu stabilisieren. Auf das "gemeinsame Schicksal" in Europa, Russland inklusive, hat Genscher in seinen letzten Interviews hingewiesen. Aber auch darauf, dass unsere Werte von der Freiheit bis zu den Menschenrechten nie verhandelt werden könnten.

Genscher hinterlässt ein Vermächtnis

Das bleibt als Vermächtnis Genschers, gerade im Moment: Die Europäer müssen mit allen ihren Nachbarn in gutem Einvernehmen leben und Handel treiben. Aber dort, wo es Unterschiede gibt, müssen wir darauf hinweisen. Und nie nachgeben. Wirtschaftliche Kontakte mit dem Iran sind richtig, aber wir müssen immer auf die Anerkennung Israels pochen. Die Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage ist ohne Alternative, aber Herr Erdogan muss einen Kurs in Demokratie und Pressefreiheit machen. Das gilt auch für Russlands Putin, der die Schwächen Europas ausnützt. Ihm müssen wir umso mehr unsere Stärken zeigen.

Genschers Antrieb war auch, dass seiner Heimat der Wahnsinn eines Krieges erspart bleibe, wie er ihn erlebt hat. Die nächsten Generationen müssen Frieden erhalten, ohne den Schrecken des Krieges zu kennen. Und noch ein Zitat bleibt von Genscher: "Die Presse ist die Artillerie der Freiheit." Natürlich ganz friedlich gemeint.

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