Die Charakter-Prüfung

Wolfgang Winheim

Wolfgang Winheim

Nationalstolz und Leidenschaft gelten als Trümpfe der Georgier. Doch sie beherrschen auch den Ball.

von Wolfgang Winheim

über WM-Quali-Auftakt

Tiflis. Als dort Österreich mit Herbert Prohaska im Mittelfeld am 27. März 1985 das bislang einzige Länderspiel im Südkaukasus bestritt, war Georgien noch Teil der Sowjetunion und Tiflis das Winterquartier ihrer Nationalelf, während Moskau fror.

Nach der allerersten Landung einer AUA-Chartermaschine in Tiflis kamen wir aus dem Staunen nicht heraus.

Weil sich fremde Menschen auf den Straßen voller Ehrfurcht nach dem (abwesenden) Hans Krankl erkundigten;

weil sie berichteten, dass das letzte Meisterschaftsspiel von Rapid-Gegner Dinamo vor dem Europacup-Semifinale in einer Moskauer Halle auf Gummiboden stattgefunden habe;

weil an der Uferpromenade am braunen Kara-Fluss in Tiflis die Schilder "Stalin-Straße" entgegen einer Kreml-Weisung, wonach alles, was an den aus Georgien stammende Völkermörder Josef Stalin erinnert, nicht abmontiert wurden;

und weil die 26.000 Zuschauer beim Abspielen der Sowjet-Hymne gnadenlos pfiffen.

Dass kein Lokalmatador in der Sowjet-Auswahl berücksichtigt wurde, war nur ein Mitgrund für die Aversion gegenüber allem Russischen.

1991 erfolgte die Abnabelung von der UdSSR. Seither schrumpfte der ohnehin geringe russische Bevölkerungsanteil in Georgien um fast zwei Drittel. Wie die Ukraine, die baltischen Länder, Aserbaidschan, Armenien oder Kasachstan stellt Georgien längst eine eigene Nationalelf. Der morgige Österreich-Gegner setzt sich mehrheitlich aus Spielern zusammen, deren Namen mit dse oder schwili (= Sprössling) enden.

Nationalstolz und Leidenschaft gelten als Trümpfe der Georgier. Doch sie beherrschen auch den Ball. Andernfalls hätten sie nicht Spanien – wenn auch nur in einem Test vor der EM – 1:0 besiegen können.

Trotzdem: Anders als in der EM-Qualifikation gelten Marcel Kollers Auserwählte selbst auswärts als Favoriten. Eine trügerische Rolle. Denn anders als früher benötigen die Nationalspieler das Nationalteam nicht mehr, um sich in die internationale Auslage zu spielen und ans große Geld zu kommen. Das haben Arnautovic, Alaba, Dragovic und Kollegen schon zur Genüge.

Der Saturierten-Status ihrer Stars ist schon größeren Nationalmannschaften als der österreichischen zum Verhängnis geworden. Zumeist dann, wenn in einem Länderspiel nicht rasch ein Tor gelingt und sich Leistungsträger bei negativem Spielstand damit zu trösten beginnen, dass ohnehin nicht der Landesverband, sondern der Klub der Geldgeber (und damit wichtiger) ist.

Der Auftakt der WM-Qualifikation im heißen Tiflis wird weniger eine Frage der Qualität, sondern vor allem eine des Charakters sein.

Stimmt die Einstellung, stimmt auch das Resultat. Dann wird das Resümee von ORF-Analytiker Prohaska nicht jenem vom März ’85 ähneln, als Österreich in Tiflis 0:2 unterlag und der KURIER-Matchbericht mit dem Satz begann: "In dieser Zusammensetzung darf Österreich nie wieder spielen."

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