Mund-Art

Mund-Art
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

Wer küsst, berührt, denn Kuss ist Kontakt.

von Gabriele Kuhn

über die Kunst der Mund-Art

Der Abend ließ sich vollmundig an. Der Mann hatte einen prachtvollen Hintern, das Vanille-Zimt-Parfait zerging auf der Zunge. Im Necessaire der Dame harrte eine Kondompackung auf Aufriss. Man erörterte die besten Locations für ost- vietnamesische Suppenkultur und ortete vibrierend …– so ein Zufall aber auch! – …Gemeinsamkeiten. Wie etwa das Faible für irisches Mineralwasser und französische Pop-Literatur. Er zahlte, sie gingen, man hielt Händchen und dann kam er endlich, der ersehnte, erste Kuss.

Eigentlich der Aufbruch zum Mount McKoitus: Vanille-Zimt-Aroma an Vanille-Zimt-Aroma. Lippen an Lippen. Zunge an Zunge. Speichel zu Speichel. Mund auf, Augen zu und ab in die Horizontale. Von wegen. Der Mann hatte zwar einen reschen Knackarsch, schien jedoch an akuter Kiefersperre und unkontrolliertem Draufdrückertum zu leiden. Statt Gaumenspiel à la Parfait nur enttäuschend schlichte Mundart im Stile eines festpress-festfeucht. So als würde ein angehender Doktor med. mit der Narkosemaske am leblosen Objekt üben. Danke, bitte setzen und nicht genügend. Mr. Breitmaulfrosch darf wieder solo am irischen Sprudelwasser nippen.

Im Kuss liegt die große Chance, er ist das Entree für erotische Zugaben. Er ist, heißt es bei Daphnis und Chloe, Œstets eine Forderung nach mehr, nämlich nach dem einen: nackt beieinander liegen. Dabei entlarvt er gnadenlos das sinnliche Potenzial eines Menschen. Speziell Männer sind hier oft nicht meiner Meinung, manchen von ihnen ist das Kusstalent einer Frau ziemlich wurscht. Wenn es nur um schnelle Triebabfuhr gehen soll, zählen halt andere Qualitäten: ŒWenn sie schlecht küsst, was solls …dann dreh ich sie halt um, vernahm ich da unlängst von einem guten Bekannten. Naja. Für mich als Frau gilt jedenfalls: Wie der Herr seine Lippen einsetzt, so agiert er auch im Bett. Schlecht geschmust – …mies gevögelt. Basta.

Doch wehe, ein Kuss-Weltmeister packt aus und riskiert seine Lippen für dich. Das wirkt wie geile Löffelchen von Fiocco-Schoko-Stracciatella und eine Überdosis Spanische Fliege in einem. Augen zu, Schnäbelchen an Schnäbelchen und schon ist die Moral a blede Gschicht, die man sehr gerne und sehr zügig vergessen würde. Weil irgendetwas in der Magengrube giert: mehr, mehr, mehr!

Sicher ist: jeder Mensch hat seine Kuss- Biographie. Man vergisst ja oft den ein oder anderen gemeinen One-Night-Stand. Aber Schmusereien? Die sind Erinnerungen vom Allerallerfeinsten. Ach, der erste Kuss! Nasse Hände und Zungen von der Beschaffenheit einer Boa Constrictor. Mächtig, schlängelnd, drängend. So als würden die Gaumenfreuden an der Speichel-Austausch-Menge gemessen oder an der Zahl der Zungenrotations-Einheiten pro Minute.

Trotzdem … Premieren bleiben unvergessen. Auch wenn Jahre später jeder begriffen haben sollte: Küssen ist kein Wetten, dass-Contest, bei dem es darum geht, wer als erster mit seiner Zunge an das Gaumenzäpfchen des anderen stößt. Küssen ist ein Spiel. Es ist beißen und knabbern, einatmen und trinken, wandern und suchen. Beim Schmusen steht die Zeit still, es ist ein Sich -Versenken und -Verlieren im Antlitz des Gegenübers. Und: es muss nicht immer ein Zungenpritschler sein. ŒWer küsst, berührt, denn Kuss ist Kontakt, schreibt Otto F. Best in "Der Kuss, eine Biographie".

Wilhelm Reich meinte, beim Küssen würden sich die Lippen aufladen. Wozu aber der ganze Schmus? Lange Zeit kam Homo sapiens ohne zärtliche Lippen-Blüten aus. Insulaner im Südpazifik lernten erst im 17. Jh. von Europäern, was der harmlose Oral-Verkehr bedeutet. Küssen ist erlernt (auch wenns nicht jeder wirklich lernt). Laut Irenäus Eibl-Eibesfeldt hats was mit der Brut und deren Pflege zu tun (Schnäbeln, Mund-zu- Mund-Fütterung bei den Menschenaffen). Laut Sigmund Freud, logo, etwas mit der Brust und unser aller Sehnsucht danach. Nach Auffassung der Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebbersfeld hingegen ist glasklar: Küssen, speziell mit Zunge, ist nichts anderes als symbolischer Geschlechtsverkehr. Geboren aus dem Belecken und Beschnüffeln unserer Vorfahren am Hintern.

Noch mehr Natur-Kunde … damit jeder weiß, was er hat, wenn ers tut. Ein herzhafter Kuss besteht (Rezept für eine Person!) angeblich aus 61 mg Wasser, 0,7 mg Eiweiß, 0,16 mg Drüsensekret, 0,45 mg Salz und 0,76 mg Fett … und wahrscheinlich dem einen oder anderen Erreger. Bevorzugter Kopf-Neigungswinkel in Sachen Kuss-Leidenschaft: nach rechts. Wie zumindest Biopsychologen an Paaren in Flughäfen und Parks beobachten konnten. Ein Relikt, so die Experten, aus vorgeburtlicher Zeit.

ŒIch hab sie nicht geküsst, ich hab nur in ihren Mund geflüstert, sagte Chico Marx und malte damit wohl das Ideal von Kuss-Kunst. Wer die wirklich perfekt beherrscht, sei allerdings gewarnt. Einer japanischen Empfehlung zufolge, sollte man den Zungenkuss nur mit Bedacht einsetzen –… speziell knapp vor dem Orgasmus. In der Ekstase könnte die Frau ihrem Partner nämlich die Zungenspitze abbeißen. Tsts.

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