Ein anderes Land

Die vergangenen zwölf Monate haben Österreich verändert. Allerdings sind viele Probleme noch immer ungelöst.
Stefan Kaltenbrunner

Stefan Kaltenbrunner

Rückblickend traf die Flüchtlingswelle die heimische Politik völlig unvorbereitet.

von Stefan Kaltenbrunner

über ein Jahr Flüchtlingskrise

In Decken eingehüllte, frierende, durchnässte Menschen, die Furcht und die Strapazen tief in ihre Gesichter gezeichnet, Männer, Frauen, Alte, kleine Kinder, Mütter mit ihren Babys im Arm, die meisten mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Mit Bussen und Regionalzügen wurde der nicht enden wollende Flüchtlingsstrom von der ungarische Grenze zum Wiener Westbahnhof transportiert, wo sie mit Applaus von einer hilfsbereiten Zivilgesellschaft in Empfang genommen wurden.

Tausende Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan oder dem Iran drängten sich vor nicht einmal einem Jahr wochenlang dicht an den Gleisen, warteten nach ihrer gefährlichen Odyssee aus den Kriegsgebieten auf ihre Weiterreise mehrheitlich Richtung Deutschland. Die damalige Innenministerin eilte zum Bahnhof für ein Bad in der Menge, der damalige Bundeskanzler plädierte für offene Grenzen, der damalige ÖBB-Chef gab staatsmännische Interviews, der damalige Polizeichef des Burgenlands solidarisierte sich mit den Migranten, und ein junger Außenminister philosophierte über eine neue Willkommenskultur. Es sind Bilder, die um die Welt gingen, und es sind Tage, Wochen und Monate, die Österreich in seinen Grundfesten verändern sollten.

Die Krise polarisiert

Heute, knapp zwölf Monate danach, leben rund 90.000 Flüchtlinge im Land, an den Außengrenzen stehen Zäune, der damalige ÖBB-Chef ist jetzt Kanzler und gibt nur noch staatsmännische Interviews, der damalige Polizeichef ist jetzt Verteidigungsminister und setzt auf Abschottung, ein getauschter Innenminister will die Notverordnung, der nicht mehr ganz so junge Außenminister regt Internierungslager auf Mittelmeerinseln an und in die Hofburg zieht vielleicht ein Freiheitlicher ein. Die Bevölkerung ist unterdessen tief gespalten, verängstigt und verunsichert. Die Flüchtlingsproblematik polarisiert, treibt einen tiefen Spalt in die Gesellschaft.

Rückblickend traf die Flüchtlingswelle die heimische Politik in diesen Augusttagen völlig unvorbereitet, vielleicht aus Unvermögen, vielleicht auch nur aus Überforderung. Die Probleme waren augenscheinlich weit weg, in Italien, in der Türkei, im Libanon oder in Griechenland. Es brauchte mehr als 71 erstickte Migranten in einem Lastwagen an der Ostautobahn und ein völlig überfülltes Flüchtlingslager in Traiskirchen, bis die Regierung ansatzweise den Versuch unternahm, eine geordnete Flüchtlingspolitik in die Wege zu leiten. Es sollte freilich lange beim Versuch bleiben.

Keine Konzepte

Aber es wäre zu billig, den heimischen politischen Akteuren ihre streckenweise Inkompetenz wie einen Spiegel vorzuhalten, die mit einem Komplettversagen der europäischen Flüchtlingspolitik einhergeht und sich vielleicht so auch relativieren lässt. Dass Österreich an die 100.000 Flüchtlinge aufnimmt, die Nachbarländer Tschechien und die Slowakei nur ein paar Hundert, dürfte Erklärung genug sein. Heute hat Österreich, nicht zuletzt getrieben durch den rasanten Aufstieg der Freiheitlichen, die strengsten Asylgesetze in Europa, war federführend in der Schließung der Balkanroute, setzte Obergrenzen fest, überlegt, in den kommenden Wochen eine Notstandsverordnung einzuführen. Ob die Maßnahmen in diesem Ausmaß wirklich notwendig sind, sei dahingestellt. Dass 90.000 Flüchtlinge eines der reichsten Länder der Welt in den Abgrund treiben, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Egal, so etwas nennt man wohl Politik. Außer Streit steht, dass das Land nicht noch einmal eine Migrationswelle in diesem Ausmaß wird aushalten können. Die große Frage ist freilich, wie man mit den Tausenden Migranten, vornehmlich junge Männer, die hier Asyl bekommen, in Zukunft umgehen wird. Schlüssige Integrationskonzepte liegen derzeit nicht einmal ansatzweise vor. Dass man lieber über Kürzungen von Sozialleistungen für Migranten streitet, anstatt über Ausbildungsverpflichtungen, Jobprogramme, Sprach- und Wertekurse zu diskutieren, wird sich langfristig wohl als Fehler erweisen.

Mammutaufgabe

Eine sinnvolle und nachhaltige Integration, die man ernst nimmt, wird Geld kosten und ist eine Mammutaufgabe, der man sich, den Populisten zum Trotz, wird annehmen müssen. Die Lösung dieser Probleme wird entscheidend für den sozialen Frieden und die Zukunft des Landes. Was wir uns nicht leisten können, ist eine von Sozialleistungen abhängige Parallelgesellschaft von jungen Männern aus einem völlig anderen Kulturkreis. Diese Entwicklung wäre fatal.

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