Schienbeintritte gegen die Klassik-Tradition

Georg Leyrer

Georg Leyrer

Die klassische Musik ist in die Defensive geraten.

von Georg Leyrer

über die vielfältigen Streits um Konzertsaal-Neubauten.

Wenn ein Stardirigent wie Kent Nagano die Notwendigkeit sieht, ein Plädoyer gegen die zunehmende Bedeutungslosigkeit der klassischen Musik zu halten, dann heißt es aufzumerken. Und wenn dann knapp hintereinander zwei wohlhabende Städte – München und London – heiße, negativ geprägte Diskussionen um einen neuen Klassik-Konzertsaal führen, dann muss man konstatieren: Die klassische Musik ist international in der Defensive – sie ist nicht mehr selbstverständlich. Und das ist eine beachtliche Verschiebung im Gefüge der Kulturwelt.

München ist wahrlich keine arme Stadt – auch kulturell nicht. Aber einen neuen klassischen Konzertsaal wollte sich die bayrische Metropole, nach heftiger Diskussion, nicht leisten. Mariss Jansons hatte sich vehement dafür eingesetzt. Die Politik lehnte aber ab. Jansons findet das „peinlich“ und einen „Schock“. Für die Wochenzeitung Die Zeit ist die Ablehnung „ein gezielter Tritt gegen das Schienbein dieser Tradition“.

Die Kosten

Die nächste Diskussion: Nun hat Simon Rattle, demnächst Chef des London Symphony Orchestra, in mehreren britischen Medien moniert, dass es in London keinen gut klingenden Konzertsaal gibt. „Die Musikliebhaber hier verdienten einen Ort, an dem ein Orchester erblühen“ könne, sagte Rattle. Was folgt? Eine weitere heftige Diskussion, natürlich über die Kosten.

Alleine die – mittlerweile beschlossene – Machbarkeitsstudie zum Konzertsaal soll eine Million Pfund kosten. Die Konzerthalle bis zu 200 Millionen. Die Politik bekennt sich dazu, das Ganze soll Teil eines 6,4 Milliarden Pfund teuren Erneuerungsprogramms der Finanzmetropole werden.

In den Medien jedoch ist die Diskussion heftig: Rattle „wachelt seinen Dirigentenstab für die falsche Sache“, schreibt der Guardian. Und verweist auf Kürzungen in der Musikerziehung und in der Komponistenförderung, deren Rückabwicklung für die Zukunft der klassischen Musik wesentlich wichtiger wäre.

Getrübte Freude

Auch dort wo gebaut wurde oder gebaut wird, ist die Freude nicht ungetrübt. Architekt Jean Nouvel ist der Eröffnung des Centre Pompidou de la Musique in Paris ferngeblieben – denn dort wurde eine „Baustelle“ eröffnet, wie Nouvel in Le Monde kritisierte. Die Kosten sind seit der Grundsteinlegung 2008 – damals tat man sich mit dem Beschluss neuer Kulturbauten noch leichter – von von 200 Millionen Euro auf mehr als 380 Millionen angestiegen.

Und die Freude in Hamburg über die Elbphilharmonie ist mit den zunehmenden Kosten – die sollen nun bei unvorstellbaren 865 Millionen Euro liegen – zunehmend gesunken.

Naganos Plädoyer

Aber Musik ist mehr als Bauten – und im Personal gibt es ebenfalls verbreitete Probleme. In Italien, Spanien, den USA schließen Opernhäuser, streiken Musiker, wird das Angebot gekürzt.

Selbst Stardirigenten wie Nagano sind längst in Alarmmodus: Das (finanzielle) „Goldene Zeitalter“ der Klassik endet nun, schreibt Nagano in seiner Autobiografie „Erwarten Sie Wunder!“. Die klassische Musik „steht überall zur Disposition, weil sie angeblich zu teuer oder zu wenig zeitgemäß ist.“ Nagano erlebt seit vier Jahrzehnten einen „sich beschleunigenden Bedeutungsverlust der Klassik“. Er sehe „lauter Tode auf Raten“. Nagano hält angesichts dieses Bedeutungsverlusts ein brennendes Plädoyer für die Klassik. Allein, dass das nötig ist, ist ein Alarmzeichen.

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