Doku "10 Milliarden" macht auch Mut

Blick in eine indische Hühnerschlachtanlage: Bild aus der neuen Filmdokumentation "10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?" von Valentin Thurn.
"Speiseräume"-Buchautor Philipp Stierand über urbane Landwirtschaft, die EXPO in Mailand und den Kinofilm "10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?".
Stefan Hofer

Stefan Hofer

Kinodoku "10 Milliarden" schockiert nicht nur, sie macht auch Mut, meint Buchautor Stierand.

von Mag. Stefan Hofer

über Nahrungsmittel- versorgung

Während Freunde den lauen Abend am Wiener Naschmarkt genossen, habe ich mich nach der Arbeit in einen kleinen, dunklen Kinosaal verkrochen. "10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?", der neue Film von Valentin Thurn stand auf dem Programm. Der Stuttgarter Regisseur ist vielen Menschen seit seiner erfolgreichen Dokumentation "Taste the Waste" (2011), in der es um Lebensmittelverschwendung geht, ein Begriff. Derzeit läuft sein jüngstes Werk in den österreichischen Kinos.

Thurn reist in 100 Kinominuten um die Welt und geht der Frage nach, wie die wachsende Weltbevölkerung ernährt werden kann. Bietet die Wissenschaft - etwa mit Laborgärten und künstlichem Fleisch - die Lösung? Sind Insekten als Proteinquelle eine Alternative auch für die westliche Welt? Sollen wir städtische Räume vermehrt für Obst- und Gemüseanbau nutzen?

Trailer zum Film

Nachgefragt

Doku "10 Milliarden" macht auch Mut

Wieder zuhause, ist mir das Buch " Speiseräume" von Philipp Stierand in den Sinn gekommen, der sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie urbaner Lebensraum und Ernährung zusammengehen. Auf der Websitespeiseraeume.deschreibt der promovierte Raumplaner über Ernährungspolitik und nachhaltige Lebensmittelversorgung. Ich habe den Experten per E-Mail gefragt, wie ihm Valentin Thurns Film gefallen hat.

Herr Stierand, gab es im Film eine Szene, die Sie überrascht oder schockiert hat?

Stierand: Die Einblicke in einen indischen Hühnerschlachthof erschrecken, weil man gerne verdrängt mit welcher Effizienz Tiere am Fließband getötet werden. Dabei überraschen die Aussagen des Firmenvertreters, weil er die Massenproduktion so stolz als Fortschritt verkauft, wie es sich in Europa niemand trauen würde. Aber ich denke, dass der Film eigentlich nicht schockieren will: Er diskutiert die Frage "Wie werden wir alle satt?" mit viel Neugier auf unterschiedliche Lösungsansätze. Er erzählt dabei einige bewegende Geschichten und zeigt viele schöne mutmachende Beispiele auf.

Kann eine Filmdoku Verhaltensweisen ändern?

Stierand: Wenn im Film den Lösungsansätzen des industriellen Ernährungssystems alternative Ansätze gegenübergestellt werden, dann kann man natürlich nur hoffen, dass sich der Kinobesucher eine Meinung bildet und sich an diese im Lebensmittelladen auch noch erinnert. "10 Milliarden" stellt mit dem Blick zu "Incredible Edible Todmorden" (Anm.: "unglaublich essbar"-Initiative in einem englischen Städtchen) und zur "Transition Town" in Totnes tolle Projekte vor. Diese Initiativen gingen von Einzelnen aus, wurden zu Bewegungen und beeinflussten das Verhalten vieler Menschen positiv. In Deutschland hat sich rund um den Film der Verein "Taste of Heimat" gegründet, der regionale Lebensmittel stärken und lokale Ernährungspolitik zum Thema machen will. Erste Initiativen wurden also bereits angestoßen.

Laut Umweltministerium landen österreichweit jährlich 500.000 Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Kürzlich ist eine Debatte über Lebensmittelverschwendung entflammt, ein "Anti-Wegwerf-Gesetz" wird gefordert. Sinnvoll?

Stierand: Das Problem eines "Anti-Wegwerf-Gesetz" ist, dass es beim im Verhältnis kleinsten Produzenten von Lebensmittelabfällen ansetzt. In Deutschland entstehen 5 Prozent des Abfalls im Handel, über 60 Prozent der Lebensmittelabfälle entstehen in den privaten Haushalten. Die Zahlen werden für Österreich ähnlich sein. Jedes Lebensmittel, das weniger weggeworfen wird, ist ein Erfolg. Wenn man aber das Thema Lebensmittelmüll nach einem "Anti-Wegwerf-Gesetz" als abgehakt ansieht, hat man fast nichts erreicht. Und vielleicht hätte man da mit einem Verbot von 2-für-1-Aktionen schon mehr erreicht als mit einem Wegwerf-Verbot.

In Wien boomt Urban Gardening. Wird sich diese Art der Lebensmittelproduktion langfristig in unseren Köpfen und urbanen Grünflecken verwurzeln oder ist das nur eine "hippe" Zeiterscheinung?

Stierand: Lebensmittelanbau und Gärten gehörten schon immer zu unseren Städten: Vor der Industrialisierung waren sie eine lebensnotwendige Versorgungsstruktur, verschwunden waren sie seitdem aber nie. Denken Sie nur an die vielen Kleingärten. Dass die neuen Gartenformen jetzt nur eine vorübergehende Erscheinung sind, darauf gibt es – auch wenn man sich den Ursprung der Bewegung in den USA anguckt – keine Hinweise. Die Städte werden sich an Gärten im öffentlichen Raum und Gärtner, die gemeinschaftlich gärtnern und auch in der Ernährungs- und Stadtpolitik mitreden wollen, gewöhnen müssen. Und ich glaube, das ist erst der Anfang: Es gibt im Lebensmittelhandwerk und im -handel Projekte und Start-ups, die darauf hoffen lassen, dass auch hier unsere Versorgung auf unkonventionelle Art erweitert wird.

Die EXPO 2015 dreht sich um "Feeding the Planet", Millionen Besucher werden in Mailand erwartet, sie waren bereits dort. Ist so eine große, teure Veranstaltung der richtige Ort, um Probleme aufzuzeigen und Lösungswege für die Nahrungsmittelsicherheit zu finden?

Stierand: Im ursprünglichen Konzept hatte die Expo 2015 die Idee eine Diskussionsplattform zur Welternährung zu sein – und keine Leistungsschau einzelner Länder. Von diesem Konzept ist leider nichts übrig geblieben. Das Problem der Welternährung ist ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches, daran muss eine Industrieausstellung – und das ist zumindest der Ursprung des Formats "Expo" – wohl scheitern. Wenn man sieht wie in Pavillons wichtiger Industrienationen Gemeinschaftsgärten und handwerklicher Lebensmittelproduktion als Aushängeschild dienen, scheinen zumindest die Pavillionbauer diesen Widerspruch zu ahnen.

Doku "10 Milliarden" macht auch Mut

Haben Sie ein weiteres Buch-Projekt geplant?

Stierand: Mein Blog Speiseräume ist ja quasi ein nie endendes Buch… Nein, ein konkreter Nachfolger von "Die Ernährungswende beginnt in der Stadt" ist aktuell nicht geplant, aber wenn ich die vielen spannenden Projekte beobachte, die gerade entstehen, steigt die Lust darüber in Zukunft wieder ausführlich zu berichten.

Zur Website speiseraeume.de

Zur Website von Valentin Thurn

Kino-Beginnzeiten von "10 Millliarden" auf film.at

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