Ist Europa wirklich eine Festung?

Dietmar Kuss

Dietmar Kuss

Das ist kein Europa, mit dem man sich gerne identifiziert

von Mag. Dietmar Kuss

über geschlossene Grenzen

Europa ist eine Festung – und muss es auch bleiben“. Mit dieser gewagten These erregte Dirk Schümer in der Online-Ausgabe der deutschen Tageszeitung Die Welt vom 18. Mai Aufsehen. Er zeichnet ein düsteres Bild von einer Zukunft Europas, in der „illegale und unkontrollierte Zuwanderung“ zu Chaos und Bürgerkrieg führen. Bereits jetzt würde sich der Bahnhof von Mailand ausgerechnet während der Expo in ein afrikanisches Zeltlager verwandeln. Jene, die von einer offenen Außengrenze schwärmen, müssen mit einem „Europa voller Flüchtlingslager“ rechnen, schreibt Schümer.

Dass offenen Grenzen und ein noch immer fehlender Schlüssel zur Aufteilung von Flüchtlingen zu nationalen Egoismen und „eifersüchtig bewachten Binnengrenzen“ führt, ist schon jetzt Tatsache: In Bayern soll die Schleierfahndung wieder eingeführt werden, die neue dänische Regierung will wieder Grenzkontrollen einführen. Europa hat in den vergangenen Jahren zwei Milliarden Euro in Überwachungszäune und Grenzkontrollen investiert. Um ein neues drastisches Bild zu zeichnen: Immer mehr Menschen prallen auf der Suche nach einem würdigen Leben an den Grenzen Europas ab.

Blinde Hingabe

Ist Europa also wirklich eine Festung, die sie es auch bleiben soll? Die Diagnose von Dirk Schümer ist nicht unrichtig. Die sachlich berechtigte Forderung, klar definierte Grenzen beizubehalten, ebenso nicht. Auf dem Begriff „Festung“ zu beharren, ist allerdings zweifelhaft. Nicht nur weil ihn schon die Nazis in ihrer Propagandadiktion verwendet haben (Hitler warnte vor einem Angriff der Alliierten auf die Festung Europa). Auch weil er mit kriegerischer Starrheit, verteidigen ohne Rücksicht auf Verluste, blinder Hingabe und Autoritätsgläubigkeit verbunden ist. Das ist kein Europa, mit dem man sich gerne identifiziert.

Apropos Identifizieren. Grenzen sind ja nicht real, sondern konstruiert, schrieben wissenschaftliche Autoren in den 80er Jahren. Die Bürger der EU müssen aber ein großes Abstraktionsvermögen haben, um sich mit Europas Grenze zu identifizieren. Ein Weinbauer aus der Provence versteht kaum die Probleme eines Beamten in Lampedusa, der sich mit den Flüchtlingen auseinandersetzt. Umso mehr und gerade deswegen sind vorgestellte Grenzen wichtig für unser Selbstverständnis. Grenzen sind symbolisch auch jene Orte, an denen Menschen und Nationen erkennen, dass sie einzigartig sind. Deshalb sollten sie als Toleranzgrenzen verstanden werden. Nicht als Festungswall.

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