Held, Chauffeur & Seelentröster: Mein Leben als Papa
Die vielen blauen und roten Filzstiftstriche an der Kinderzimmerwand haben, darüber waren wir uns damals alle einig, nicht zwingend zur Verschönerung des Raumes beigetragen. Die muntere Elternschar kommentierte die künstlerisch fragwürdige Verzierungsleidenschaft der Zweijährigen mit solidarischem Entsetzen, getreu dem über viele Jahre antrainierten Erziehungscredo "Ach du Scheiße!" Das unterschied sie allerdings wesentlich von meiner Tochter, die ihr Werk offensichtlich für gelungen erachtete, anders war ihr Grinsen nicht zu interpretieren.
Im Büchlein
Ich betrachte die vielen alten Fotos und staune über das Werden meines Kindes. Ich sehe die Filme aus der Zeit der Jahrtausendwende und mache mir Gedanken über das eigene Älterwerden. Und ich versinke in einer Welt, in der mein Vater noch gelebt und sprachliche Schätze des geliebten Enkerls in einem Büchlein verewigt hat:
Enkeltochter: "Ich esse gerne Spinnen."
Opa: "Aber geh', die kann man ja gar nicht essen."
Enkeltochter: "Oh ja, kann man. Ich ess' auch gerne gebratene Dinosaurier."
Opa: "Aber die sind doch schon ausgestorben."
Enkeltochter: "Ja, aber nur die großen. Kleine gebratene Dinosaurier schmecken sehr gut. Auch gut sind gebratene Teddybären. Aber nur für Schulkinder, weil da ist Alkohol drin."
Vaterrolle als Karenzpapa
Als meine Tochter, die ich mir so ersehnt hatte, geboren wurde, habe ich beschlossen, während ihres zweiten Lebensjahres in Karenz zu gehen. Aus dem Gefühl heraus, alles mir Mögliche zu tun, um meiner Rolle als Vater und meinem Bewusstsein von Verantwortung, Hingabe und Überzeugung gerecht zu werden. Die bekannte Jugendtherapeutin Meg Meeker erklärt, dass Frauen später vor allem Männer attraktiv finden, die sie so behandeln, wie der Vater sie behandelte. Daher legt sie in ihrem Bestseller "Strong Fathers, strong Daughters" so viel Wert auf den Gedanken, dass Väter unbedingt erkennen müssen, wie stark sich ihr Verhalten auf die weitere Lebensentwicklung ihrer Tochter auswirken kann.
Das anstrengendste Jahr
Es sollte das anstrengendste Jahr meines Lebens werden. Denn kein Buch der Welt vermag einen auf die vielen Herausforderungen an den vielen Tagen, die nicht enden wollen, vorzubereiten. Und obwohl ich danach fast zwei Jahre benötigte, um wegen des Verdienstentgangs wieder finanziellen Boden unter die Füße zu kriegen, obwohl ich völlig unerwartet an die Grenzen meiner physischen und psychischen Kräfte geriet, obwohl ich sicher war, in den Wahnsinn getrieben zu werden, nachdem ich zum 79. Mal "Die Puderzuckerstadt" (Pixi-Buch Nr. 1122) vorgelesen hatte, war eines immer klar: Ich würde alles wieder so machen. Die enorme Präsenz als Vater, verknüpft mit der Erfahrung einer unerschütterlichen Liebe, schuf eine außergewöhnliche Symbiose, einen Zauber, von dem ich später auch in den schlimmsten Teenager-Phasen profitierte.
Im Spiegel
Was nicht nur daran liegt, dass ich das Wesen von Tochterherz mit maximaler Aufmerksamkeit begriffen zu haben glaubte, sondern vor allem daran, wieviel ich im Laufe unserer gemeinsamen Jahre über mich selbst erfuhr. Niemand hat mir während des immerwährenden Versuchs einer Begegnung auf Augenhöhe jemals schonungsloser den Spiegel vorgehalten als die Prinzessin, für die ich Papa und Held war, Lehrer und Seelentröster, Financier und Chauffeur, Ruhepol und Blitzableiter, Zornbinkerl und Witzfigur, Mahner und Schmeichler. "Ach ja, sie geben einem so viel zurück". Tun sie tatsächlich. An meiner Tochter bin ich gewachsen, sie hat mich Aufmerksamkeit, Geduld und Gelassenheit gelehrt, oder auch die Gabe, mich im Augenblick verlieren zu können. Sie hat mir offenbart, was auf dieser Welt wichtig und was nichtig ist, welche Emotionen unverzichtbar und welche Fehler unvermeidbar sind. Und was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, Haltung zu bewahren sowie bedingungslose Liebe zu leben.
Meinungsverschiedenheiten
Vor einiger Zeit hatten die forsche 17-Jährige und ich eine Meinungsverschiedenheit, im Zuge derer ich nicht wusste, ob ich sie wegen ihres eloquenten Widerspruchsgeistes am liebsten an die Wand kleben oder doch lieber verdammt stolz sein sollte. Am Ende erklärte ich ihr, warum auch ein Vater nur ein Mensch mit Recht auf Schwäche, Fehler und Verletzlichkeit ist, und daher mitunter mühsam sein kann. Dann setzte sie ihren zarten Verständnisblick auf und sagte: "Oh Paps ... es ist mega, wie saulieb ich dich habe."
Nun, die sprachlichen Raffinesse, Gefühle in Worte zu fassen, hat allenfalls noch Entwicklungspotenzial. Aber die Botschaft ist angekommen, und es ist klar: Der Ärger über blaue und rote Filzstiftstriche an der Kinderzimmerwand ist echt pipifax. Es geht bei der Idee vom Glück um so viel mehr. Daher werde ich am heutigen Vatertag mit meiner Tochter etwas zu zweit unternehmen. Ich denke, wir könnten wieder einmal gemeinsam schön essen gehen, am besten ein paar gut gebratene Teddybären.
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