Eine Begegnung, die alles veränderte
Eineinhalb Millionen jüdische Kinder starben im Holocaust. Nur 10.000 wurden vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges durch "Kindertransporte" ins Ausland gerettet. Arthur Kern war einer von ihnen. Vor zwölf Jahren kam er zurück nach Wien in die Wohnung seiner Eltern. Dort traf er die elfjährige Lilly Maier. Eine Begegnung, die ihr Leben veränderte. Und über die sie ein Buch schreibt.
Arthur, der früher Oswald Kernberg hieß, ging durch die Zimmer und konnte sich an vieles erinnern. "In meinem Zimmer stand ein Klavier, an dem er früher spielte. Er schenkte mir zur Erinnerung eine Spieluhr mit Beethovens ‚Für Elise‘."
Sein Besuch in Wien war nicht der erste. Bereits in den 1970er-Jahren versuchte er, die damaligen Bewohner zu kontaktieren – vergeblich. Maiers Familie konnte er mithilfe von Bekannten ausfindig machen. Sie öffneten ihm die Tür zu seiner Kindheit, die am 14. März 1939 zu Ende gegangen war. An diesem Tag schickten Arthurs Eltern den Elfjährigen mit dem Zug nach Frankreich. 500 Kinder wurden in Sicherheit gebracht. Arthurs Bruder Fritz durfte nicht mit, er war zu alt.
Tiefe Spuren
Das Treffen in der Wohnung hinterließ Spuren. Lilly wollte mehr über den Besucher aus den USA wissen. Und Arthur sah sie als "österreichische Enkelin". Sie schrieben einander eMails, der Kontakt blieb aufrecht. Beim Zeitzeugen-Projekt "A Letter To The Stars" recherchierte die Schülerin seine Biografie. Einige Jahre später schrieb sie ihre Matura-Arbeit über die Kindertransporte. Als Studentin arbeitete sie in der KZ-Gedenkstätte Dachau und im jüdischen Museum New York. "Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Wenn ich Arthur vor zehn Jahren nicht getroffen hätte, wäre mein Leben anders verlaufen."
Ende gut
Warum sie sich für den Holocaust interessiert, muss die 23-Jährige oft erklären. "Ich finde die Geschichte der Kindertransporte nicht deprimierend. Es sind die einzigen, die ein Happy End haben. Wenn ich die Menschen kennenlerne und sehe, wie sie damit abgeschlossen haben, kann ich emotional besser damit umgehen." Inspirierend empfindet sie die Widerstandsfähigkeit der Betroffenen. "Sie haben großteils ihre Traumata überwunden und sich aus dem Nichts, ohne Eltern, etwas aufgebaut."
Auch Arthur Kern hat es geschafft. 1941 schickte sein Vater aus dem Deportationslager in Opole, Polen, eine Einverständniserklärung an das Kinderheim in Frankreich: Sein Sohn durfte zu Verwandten in die USA ausreisen. In der Schule in New York lernte er seine spätere Frau Trudie kennen. Er erfuhr, dass sie früher im selben Bezirk gewohnt hatte.
Solche Geschichten hörte Lilly öfters. Viele ehemaligen "Wiener Kinder" fanden in den USA zusammen. Was sie ebenfalls einte: das Streben nach Bildung und Erfolg. Aus Gesprächen erfuhr die Studentin, dass dies meist der letzte Auftrag der Eltern war: "Lern immer brav, mach was aus deinem Leben – das stand in den Briefen."
Nach der Schule studierte Arthur Kern, arbeitete später als Raketentechniker in Kalifornien. Das Arbeiten war für viele eine Art, die Vergangenheit zu bewältigen. Denn darüber sprechen konnten die wenigsten. Aus Angst, oder weil sie sich nicht erinnern konnten – sie waren zu klein, um es zu verstehen. Erst in den 1980er-Jahren erzählten einige ihren Familien davon. Damals fand auch die erste offizielle Reunion in London statt. Bis dato hatten manche ein Problem, sich als Holocaust-Opfer zu definieren. "Sie glaubten, dass sie nicht betroffen sein dürfen, weil sie überlebt haben."
Was Lilly an Arthur fasziniert: "Er hat es geschafft, zu kommen und zu vergeben." Als er 2003 in der Wohnung seiner Eltern stand, sagte er, dass er keinen Hass mehr spüre, der belaste Menschen nur.
Rettungsaktion Dezember 1938: Die britische Regierung lockerte nach den Novemberpogromen die Einreise für Flüchtlinge. 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche (bis 17 Jahre) wurden vom „Refugee Children Movement“ aus Deutschland, Polen und der damaligen Tschechoslowakei nach Großbritannien gebracht. 2844 kamen aus Österreich. Die Nazis duldeten dies nur unter bestimmten Auflagen: Kinder durften einen Koffer, Tasche und zehn Reichsmark mitnehmen. Den Eltern war es untersagt, mit auf den Bahnsteig zu kommen. Viele der Kinder wurden in Heimen oder bei Pflegefamilien untergebracht – teils auch als Dienstpersonal ausgenutzt. Besonders schlimm erlebten es jüngere Kinder, die die Flucht nicht verstanden und glaubten, ihre Eltern würden sie verstoßen.
Kommentare