Die Angst darf nicht siegen

Graffiti in Brüssel: Zusammenhalten ist jetzt wichtig.
Risikoforscher Gigerenzer: Wer keinen kühlen Kopf bewahrt, spielt Terroristen in die Hände.

Erst Paris, jetzt Brüssel: Mehr denn je entsteht das Gefühl, dass wir in einer ungewissen, riskanten Welt leben. Umso wichtiger wird es, Ängste und diffuse Ungewissheit richtig einzuordnen und Risikokompetenz zu entwickeln. Gerd Gigerenzer, Risikoforscher und Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, spricht im KURIER-Interview über die direkten und indirekten Folgen des Terrors, den Stellenwert eines besonnenen Umgangs mit Ängsten und ihrer Wahrnehmung. Und er plädiert für Aufklärung statt Panikmache.

KURIER: Was bewirken Ereignisse wie in Brüssel aus psychologischer Sicht?

Prof. Gerd Gigerenzer: Die Ereignisse lösen natürlich Angst aus – doch genau das ist das Ziel des IS. Nämlich nicht, wie man vielleicht meinen würde, die Anzahl der Menschen, die sie ums Leben gebracht haben. Sondern es geht um uns alle. Es geht darum, bei uns allen Angst auszulösen und damit die ganze Gesellschaft zu destabilisieren.

Das klingt logisch – und trotzdem springen viele Menschen instinktiv darauf an. Gibt es ein Gegenrezept?

Ich glaube, es ist ganz wichtig für die Menschen, dass sie erkennen, was derzeit mit ihnen gemacht wird. Nämlich, dass sich der IS ganz bestimmte Objekte aussucht. Willkürliche Opfer, nämlich. Man könnte ja auch politische oder militärische Ziele aussuchen. Im Gegenteil: Sie haben Ziele ausgewählt, die völlig willkürlich sind, wo man den normalen Menschen treffen kann. Wenn Attacken willkürlich sind, wie in Paris oder Brüssel, dann fühlt sich niemand mehr sicher. Genau das ist das Ziel der Terroristen.

Sie plädieren immer wieder für einen kontrollierten Umgang mit Ängsten. Wie soll das angesichts solcher Ereignisse denn gehen?

Ich glaube, es ist wichtig, zu erkennen, dass die Ängste nicht die eigenen sind. Die Menschen werden auf diese Weise ferngesteuert – und die Fernsteuerung ist in den Händen des IS. Indem bestimme Taktiken verwendet werden – wie etwa die Willkür bei der Auswahl von Zielen. Terroristen schlagen zwei Mal zu. Einmal mit physischer Gewalt und einmal mithilfe unserer Angst. Das Ziel des IS ist eben nicht der Erstschlag, sondern der Zweitschlag. Wenn man das verstanden hat, dann kann man sich besser wehren. Nämlich durch die Erkenntnis, ich lasse mich nicht an der Nase herumführen und verängstigen.

Was wäre hier ein wichtiges Signal seitens der Politik?

Von der Politik gibt es im Wesentlichen zwei Reaktionen. Die eine ist der Weg, den die US-Regierung schon vor Jahren gegangen ist: Nämlich eine Kultur der Kontrolle, Überwachung und Verängstigung einzuführen. Das kann man richtig finden, wenn man wirklich viel Angst hat. Denken Sie dabei an die Boston-Anschläge, wo man eine ganze Stadt eingesperrt hat. Für das Gegenteil zu dieser Politik steht Norwegens Premierminister Jens Stoltenberg, der nach den Anschlägen von Anders Breivik gesagt hat, wir werden uns von solchen Menschen nicht unsere Gesellschaft kaputt machen, unsere Demokratie zerstören lassen – sondern wir werden, im Gegenteil, mehr Offenheit und mehr Demokratie realisieren. Das sind die zwei Extreme, zwischen denen sich die heutige Politik positionieren kann. Ich neige viel mehr zum Letzteren. Denn wir können ja sehen, wohin eine solche Politik führt, wo der Einzelne immer mehr gläsern und überwacht wird. Und das wollen wir ja auch nicht.

Wesentlich scheint der Punkt der Risikobewertung. Es entsteht ja durch solche Anschläge auch das Gefühl, es könnte einen selbst treffen. Wie realistisch ist das dann im Kontext der Risikobewertung wirklich?

Ich kenne die Zahlen für Österreich nicht, aber die sind wahrscheinlich ganz ähnlich wie in Deutschland. In Deutschland gab es zwischen 2000 und 2010 keinen einzigen Toten durch Terroristen, wenn man die NSU-Tragödie (rechtsextreme terroristische Vereinigung "nationalsozialistischer Untergrund", verantwortlich u. a. für eine Mordserie von 200 bis 2006, mehrere Anschläge und Raubüberfälle, Anm.) rausnimmt. Das heißt: In jedem Jahr, war die Gefahr, durch Blitz erschlagen zu werden, höher, als durch Terror zu sterben. Ich fürchte mich persönlich viel mehr, auf der Straße durch einen Fahrer ums Leben zu kommen, der am Steuer Texte schreibt oder auf WhatsApp oder Twitter schaut, als durch einen Terroristen ums Leben gebracht zu werden.

Solche Fakten können helfen, um Risiken besser zu verstehen. Ich sollte mich fragen, wie groß ist die Gefahr wirklich? Überreaktionen sind auf den ersten Blick verständlich, aber nicht nützlich für eine Gesellschaft. Man hat etwa in Paris nach den Terroranschlägen im November 2015 Schülern das Rauchen im Schulgelände erlaubt. Um sie davor zu schützen, dass sie auf der Straße draußen, wo sie sonst rauchen, Opfer von Terroristen werden. Ein Vertreter der Gewerkschaft hat dann gesagt, das sei zwar nicht gut, aber die Gefahr für die Schüler, durch Terroristen ums Leben zu kommen sei höher, als durch das Rauchen zu sterben. Das ist eine krasse Fehleinschätzung!

Wie entstehen Ängste denn genau?

Es gibt verschiedene Gründe. Es gibt die Angst vor Schockrisiken, das heißt, vor Situationen, in denen viele Menschen plötzlich ums Leben kommen. Das ist der Fall Brüssel oder Paris. Hier ist es einfach, in uns Angst auszulösen. Im Vergleich dazu ist es schwer, in uns Angst auszulösen, wenn genau so viele oder mehr Menschen verteilt übers Jahr umkommen. Also in den USA kommen jeden Tag etwa 90 Menschen durch Schusswaffen ums Leben. Mord und Selbstmord eingeschlossen. Da finden Sie kaum einen Bericht. Aber wenn 30 Amerikaner an einem Ort ums Leben kommen, dann wird es berichtet. Angst vor Schockrisiken ist einer der Mechanismen.

Die zweite psychologische Ursache von Angst: Man fürchtet sich vor den Dingen, vor denen sich die eigenen Freunde und die eigene Familie fürchtet. Damit lässt sich erklären, warum sich die Menschen in verschiedenen Ländern vor so unterschiedlichen Dingen fürchten. Also in Österreich fürchten sich viele vor Strahlen, vor Atommeilern, in Frankreich fürchtet man sich davor relativ wenig. Es ist wichtig, dass sich jeder dieser Mechanismen bewusst ist. Man steuert eben diese Ängste nicht selbst, sondern sie werden von außen – etwa in den Medien – mitgesteuert.

Ängste sind also auch stark soziokulturell geprägt?

Ja. Und der Mechanismus dahinter ist die Imitation des Objekts der Furcht.

Das hieße aber auch, dass soziale Medien hier mehr denn je eine Multiplikatorrolle einnehmen?

Richtig. Die Medien im Allgemeinen tun das. Sie verstärken diese Ängste und sie spielen mit ihnen. Man muss ja auch sehen, dass Terrorismus nichts Neues ist. Gerade in Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Spanien hat man diesbezüglich eine lange Tradition. Und indem man von allen schrecklichen Dingen, die passieren, bestimmte aussucht und ganz extensiv darüber berichtet, spielt man am Ende den Interessen des IS in die Hand. Die Medien werden so zum Sprachrohr des IS und seiner "Erfolge".

Aber verschweigen kann man das ja wohl auch nicht – Stichwort: Lügenpresse.

Das ist richtig, aber wenn es darum geht, Menschen vor dem Tode zu bewahren, sollten andere Dinge in den Headlines stehen. Über die man sonst wenig liest.

Was wäre das etwa?

Nehmen wir den ganz alltäglichen Umgang mit digitalen Medien. Also beim Autofahren. Man schätzt in den USA, dass jedes Jahr viele, viele Menschen durch "abgelenkte" Fahrer ums Leben kommen. Knapp 3000 Menschen – das ist genauso viel wie bei 9/11. Darüber wird wenig geschrieben, aber gegen den Mangel an digitaler Selbstkontrolle könnte man viel tun.

Sie zitieren in Ihrem Buch "Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft" Marie Curie: "Man braucht im Leben nichts zu fürchten, man muss es nur verstehen. Jetzt es ist es an der Zeit, mehr zu verstehen, damit wir weniger fürchten."

Ja, sie hat es auf den Punkt gebracht. Dass es vernünftig ist, einen kühlen Kopf zu bewahren. Und dass diejenigen, die sagen, "das kann ich nicht, wie soll das gehen", sich eines klarmachen sollen: Meine Angst ist genau das, was der IS möchte.

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