Der Krieg an der "Heimatfront"

Die Bevölkerung Wiens hungert und steht Schlange vor Bäckereien oder Molkereien – hier in der Radetzkystraße im Jahre 1915
"Wien im Ersten Weltkrieg. Stadtalltag in Fotografie und Grafik" im Wien Museum.

Der Erste Weltkrieg war tatsächlich der erste totale Krieg", sagt Alfred Pfoser, Wienbibliothek im Rathaus. "Man versuchte zwar, Normalität vorzutäuschen, aber tatsächlich geriet alles außer Rand und Band."

Die massiven Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Wiener Bevölkerung dokumentieren der u. a. von Pfoser herausgegebene 700-Seiten-Band "Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg 1914–1918" (Metroverlag) – und die Ausstellung "Wien im Ersten Weltkrieg" (bis 18. 1.) im Wien Museum.

Sie erzählt in Fotografie und Grafik vom Alltag in der Stadt: von Suppenküchen, Schulen als provisorischen Spitälern, vom Gemüseanbau mitten in der Stadt, 200.000 Flüchtlingen, verstümmelten Soldaten auf der Straße und langen Warteschlangen vor Marktständen und Geschäften.

"Polizeiberichte"

"Keine fade Zeitgeschichte-Fotoschau" sollte es werden, so Wien-Museum-Direktor Wolfgang Kos. Um die meist für die Öffentlichkeit bestimmten Fotos – Schüler, die einen Gemüsegarten im Prater betreuen, Sanitätshunde im Dienst des Roten Kreuzes – "aufzurauen und zu brechen", so Kurator Gerhard Milchram, begleiten die Schau Zitate aus zeitgenössischen Polizeiberichten.

Sie dokumentieren das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den meist galizischen Flüchtlingen oder die schlechte Versorgungslage in Militärkrankenhäusern.

Ab Spätherbst 1915 stellen sich täglich, teils ab Mitternacht, bis zu 500.000 Wiener, meist Frauen und Kinder, um Lebensmittel an.

Rund 25.000 Wiener sind an der Front gestorben, aber mehr als doppelt so viele Opfer waren durch kriegsbedingte Mangelerkrankungen in der Hauptstadt selbst zu beklagen. "Die Leute klagen, dass sie nicht wissen, wie sie den Hunger stillen sollen", heißt es in einem Polizeibericht vom April 1915, "das Fleisch sei unerschwinglich teuer, Milch, Hülsenfrüchte werdenimmer teurer und Brot bekomme man nur in beschränkter Menge."

Die Ausnahmestimmung mündete immer wieder in Streiks. "Wien stand an der Kippe zu einer revolutionären Situation wie in Sankt Petersburg", so Pfoser.

"Wegen unzulänglicher Bekleidung und Beschuhung mussten bei der herrschenden Kälte zahlreiche Arbeiter und Arbeiterinnen der Arbeit fernbleiben", heißt es am 15. Februar 1917.

Die Schau thematisiert auch die verschiedenen Rollen der Frau. "Der Kochlöffel wurde zur Waffe der Frauen", so Kuratorin Susanne Breuss, "wenn sie Mängel kompensierten, mit Ersatzstoffen umgingen oder Alltagsgegenstände selbst herstellten und reparierten."

Nicht ausgespart hat Milchram die Situation nach Kriegsende. Denn zwar war der Krieg 1918 aus, aber weiter ging der Kampf ums Überleben. "Der Waffenstillstand abgeschlossen, Victor Adler gestorben, der Kaiser Karl demissioniert – früher wäre man Kopf gestanden. Jetzt ist man nur müde. Es war schon so viel vorher und es kommt noch so viel nach. Man kann einfach nicht mehr", notierte Stefan Zweig am 13. November 1918.

Info: Bis 18. 1. , Wien Museum;Karlsplatz; Di. bis So. und Fei.10–18 Uhr www.wienmuseum.atLiteratur: Alfred Pfoser/AndreasWeigl "Im Epizentrum desZusammenbruchs. Wien imErsten Weltkrieg 1914–1918",(Metroverlag), 700 Seiten, 35 €

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