Burg: Russland ist nicht Oberösterreich

Man unterhält sich auch via Leintuch: Alina Fritsch, Sabine Haupt, von Poelnitz
Andreas Kriegenburg zeigt Gorkis "Wassa Schelesnowa" als quälende Familienaufstellung einer zerfallenden Sippe von Verhaltensoriginellen. Star der Inszenierung ist leider die Bühne.

"Wassa Schelesnowa" von Maxim Gorki spielt eindeutig nicht in Oberösterreich, denn hier haben die Frauen das Sagen. Und die Männer sind entweder sexsüchtige Schürzenjäger mit von der Syphilis geschwächter Konstitution oder geistig wie körperlich verkrüppelte Schwächlinge.

Der Patriarch dämmert dem Tod entgegen, während seine zukünftige Witwe mit allen Mitteln gegen ihre Söhne und ihren Schwager um das Erbe kämpft, um "die Firma" zu retten. Am Ende sind alle Männer vertrieben, übrig bleiben vier Frauen, die das Erbe für die übernächste Generation bewahren.

Die Akte

Gorki verfasste "Wassa Schelesnowa" 1910. Später schrieb er das Werk komplett um und machte ein etwas pathetisches Revolutionsdrama daraus, von der ersten Version blieb wenig mehr als Titel und Hauptfigur. Gorki selbst nannte die Urfassung "äußerst misslungen".

Damit liegt er falsch. Die erste Version des Textes, welche das Burgtheater jetzt dankenswerterweise wieder ausgegraben hat, ist eine brillante, atemberaubend gnadenlose Familienaufstellung einer körperlich und seelisch kranken Sippe (im Kern kann man das auch als Stück über die Syphilis lesen).

Und der Text hat eine herrliche, rätselhafte Hauptfigur, welche Christiane von Poelnitz mit ungewohnter Zurückhaltung und großer Kraft entwirft – als schockgefrorene "Mutter Courage", die ihre Kinder vorsichtshalber gleich selber frisst.

Die Firma

Und natürlich ist das auch ein Stück über Kapitalismus: Die Familie wurde in dieser Geschichte durch die Institution "Firma" ersetzt. Alle Figuren sehnen sich nach Freiheit, die Abhängigkeit vom Geld ist aber stärker. Mehr als die Gier ist als "Sinn" nicht geblieben.

Andreas Kriegenburg hat bei seiner Rückkehr ans Burgtheater darauf verzichtet, diese wilde Geschichte ins "Heute" zu holen und vielleicht in ein "Tatort"-Ambiente zu versetzen, wo wohlstandsverwahrloste Industriellen-Sprösslinge auf Glastischen Kokain konsumieren.

Die Handlung spielt im Russland knapp vor der großen Wende. Mit sicherer Hand entwirft Kriegenburg die Atmosphäre eines moderneren, härteren Tschechow.

Warum allerdings die Geschichte auf einer schwebenden, schwankenden, kippenden Holzkonstruktion (Bühne: Harald B. Thor) spielt, welche die Darsteller zu abenteuerlichem Bewegungstheater zwingt, ist nicht ganz klar.

Der Klient

Die dadurch entstehenden Bilder sind faszinierend und gleichzeitig ermüdend. Man wird das Gefühl nicht los: Würden die ganz normal spielen, dann wäre es noch stärker. Es wirkt fast so, als wäre das Ensemble hier Anwalt im Dienst der Bühne – und nicht die Bühne für die Schauspieler da.

Kriegenburg hat noch andere Ideen: So müssen die Figuren immer wieder stottern oder lallen, als würde ihnen der Hass und/oder die Syphilis schon die Sprache verbiegen. Außerdem klaut Kriegenburg das Stilmittel des Schweizer Kabarettduos "Ohne Rolf", Dialoge mittels Schriftzügen abzubilden – in diesem Fall auf Leintüchern, die gefaltet werden. ("Ohne Rolf" gastieren übrigens am 6. und 7. 11. im Stadtsaal Wien – dicke Empfehlung!).

Das Urteil

All das wird virtuos ausgeführt, bremst aber den Abend. In ihrem Glauben an an den Stil wirkt diese Aufführung auf rührende Weise altmodisch. Sie steht sozusagen staunend vor ihrer eigenen Formenwucht und kommt vor lauter Staunen nicht mehr von der Stelle.

Zudem gelingen Kriegenburg nicht alle Teile gleich gut. Der erste Akt ist dicht inszeniertes unheilschwangeres Warten, aber viel zu lang; der zweite auf dem Punkt; der dritte zerfällt.

Die Darsteller neben Christiane von Poelnitz sind stark, laborieren aber am Regie-Auftrag, ihre Figuren so verhaltensoriginell wie möglich zu zeichnen: Andrea Wenzl als toughe Tochter Anna, Aenne Schwarz als unmoralische Schwiegertochter Ludmilla, Tino Hillebrand und Martin Vischer als Söhne, Peter Knaack als Frauenheld, Dietmar König als intriganter Verwalter, Sabine Haupt als Mitverschwörerin, Alina Fritsch als Täterin und Opfer zugleich, Frida-Lovisa Hamann als zurückgebliebene Schwiegertochter.

Verhaltener Applaus für einen sehr interessanten Theaterabend.

KURIER-Wertung:

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