Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"
Fulminantes Romandebüt einer 25-Jährigen: In roten "Turnschuhen" wird gesucht, was man braucht, um ein "ganzer" Mensch zu werden.

Es ist ein gutes Gefühl, wenn man von einer ganz jungen Schriftstellerin das Leben erklärt bekommt – in einem einzigen Satz noch dazu:

"Es liegt alles an der Konzentration."

Das Schlechte kommt ja wirklich von einer zu hohen Konzentration. Zu viele weiße Blutkörperchen – zu wenige rote – Krebs – Tod.

So war es beim Bruder der Romanfigur. 13 war er, als er ins Krankenhaus kam. Die müden Eltern kauften ihm noch rote "Turnschuhe", so genannte Chucks.

Diese Schuhe sind der Boden, auf dem sich der Roman bewegt. Hilflosigkeit sollen sie ausdrücken.

Man schenkt sinnlose rote Chucks an ein sterbendes Kind. Mehr kann man nicht machen, nur noch diesen Wunsch erfüllen.

Mae, seine Schwester, erbt die Chucks. Trägt sie, trägt die Hilflosigkeit weiter, als sie sich Punks anschließt und mit Bier duscht. Trägt sie in der anschließenden sicheren, aber faden Beziehung mit einem viel zu zufriedenen Architekten.

Und bei dem HIV-infizierten Paul, mit dem jeder Tag so überraschend schön, so lebendig aussieht, weil Paul nämlich so gut wie tot ist, da hat Mae die Schuhe auch an.

Im Gespräch

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Alles liegt an der Konzentration, und "es kommt auf den eigenen Charakter an, wie viele Teile wovon man braucht, um sich ,ganz‘ zu fühlen. Und es ändert sich im Lauf des Lebens wahrscheinlich".

Sagt die 25-jährige Schriftstellerin Cornelia Travnicek im KURIER-Gespräch. Sie schreibt und lebt (was für sie nicht viel Unterschied macht) in Wien. Geboren wurde sie in St. Pölten.

"Ein bisschen Punk schadet sicher nicht. Nur wenn man in die Unsicherheit hinein aufwächst, kann es auch toll sein, immer frische Milch im Eiskasten zu haben, auch wenn so ein Sicherheitsbedürfnis vielleicht sogar ärgert."

"Chucks" ist nicht ihr erstes Buch, aber ihr erster Roman. Erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA), die auch Begley, Blixen, Anne Enright, André Gide im Programm hat.

Das sieht sehr nach dem schwungvollsten Debüt dieses Frühlings aus (der in der Bücherwelt von Jänner bis Juni dauert).

Wenige Worte füllen den Platz zwischen Leben und Tod aus. Über ihre suchende, pendelnde Mae hat Cornelia Travniceks Grazer Schriftsteller-Kollege Clemens J. Setz gesagt: Mit der würde er gern im Aufzug stecken bleiben.

"Ob ich heil aus dem Lift kommen würde, weiß ich nicht, aber das wär’s wert."

Es ist auch ein gutes Gefühl, mit "Chucks" Vorurteile gegenüber Punks abbauen zu können. Denn mag Mae auch anfangs im Park schlafen, so liest sie Bachmanns "Malina"; und ihre Freundin ist in Physik vernarrt.

Sobald mehrere Atome zusammenkommen, erklärt sie, könne man deren Verhalten nicht mehr berechnen. "Ist mit den Leuten das Gleiche", antwortet Mae.

So jung und so weit ...

Peter Pisa

Kurier-Wertung: ***** von *****

Erika Pluhar – "Im Schatten der Zeit"

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Der erste Gedanke ist: Mutter und Tochter haben sehr viel miteinander geredet. Selbst bei geschilderten Kleinigkeiten wie einem völlig harmlosen Zusammenstoß mit einem feschen Radfahrer ums Jahr 1922 ist unvorstellbar, dass es sich um eine Erfindung Erika Pluhars handelt.

Bestimmt hat ihr Anna Pluhar – geboren 1909, gestorben 1999 – auch davon erzählt.

Dass die Tochter nun derart viel weitergeben kann, ist erwärmend und traurig, weil in anderen Familien die Gelegenheiten dazu verpasst wurden.

Für den konkreten Fall "Im Schatten der Zeit" war es vielleicht etwas hinderlich. Denn das 19. Buch der ehemaligen Burgschauspielerin hängt so stark an den Fakten, dass es sich nur langsam entwickelt.

Alles wirkt wie in Stein gemeißelt –, auch wenn ein bloßes Hinhauchen an manchen Stellen einen stärkeren Eindruck hinterlassen hätte.

Schade wäre es jedenfalls gewesen, hätte sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter Anna, beginnend in deren Kindertagen in Wien-Währing, nicht irgendwie festgehalten. Eine Künstlerin wäre Anna geworden. Wie ihr Vater, ein bekannter Glasmaler. Mit Erfolg besuchte sie die Kunstgewerbeschule. Aber dann ist das Leben an ihr vorbeimarschiert. Dann war sie nicht egoistisch genug.

Denn der Mann, den sie bald heiratete und von dem sie drei Kinder bekam, war ein illegaler Nazi; und ging nach Brasilien, weil es einen Job gab; und holte Anna nach. Dort war sie unglücklich genug, aber als der Krieg begann, drängte es ihn "heim ins Reich"; und sie war dabei, ganz im Schatten zwar, aber dabei.

Danach durfte sie alles auslöffeln, weil der Mann, mit Berufsverbot bestraft, zu nichts mehr zu gebrauchen war.

Das ist es, was Erika Pluhar mit ihrer Dokumentation (die leider keine Fotos zeigt) sagen will: Dass es nahezu unmöglich war, im Krieg Widerstand zu leisten, wenn’s ums Überleben der Familie ging. Und dass es doch heute so einfach wäre, aufzubegehren.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: **** von *****

Hélène Grémillon – "Das geheime Prinzip der Liebe"

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Paris 1975: Kurz nach dem Tod ihrer Mutter erhält Camille seltsame Briefe, in denen das Schicksal der jungen Annie beschrieben wird. Einer Jugendlichen, die sich Anfang der 1940er-Jahre bereiterklärte, für eine fremde Frau ein Baby auszutragen. Camille, so steht’s im Klappentext, kann sich lange nicht erklären, was es mit den Briefen auf sich hat ...

Der Leser schon. Und das mindert die Bereitschaft, sich auf die mitunter haarsträubende Geschichte, die von Liebe über Eifersucht bis Krieg und Prostitution nichts auslässt, einzulassen. Die beiden Zeitebenen sind geschickt ineinander geschoben, der historische Hintergrund wirkt plastisch. Doch die Figuren dieses historischen Gefühlsdramas bleiben schemenhaft.

Wer ist Camille? Was treibt Annie an? Und was soll man von dem geheimnisvollen Briefeschreiber halten? Ein Buch, das nicht übermäßig beansprucht. Durchhalten zahlt sich trotzdem aus, auch wenn zu diesem Zweck die eine oder andere Seite überblättert werden muss: Auf den letzten Seiten gibt’s noch eine überraschende Wendung. Die einzige zwar und nicht die überzeugendste, aber immerhin.

Anna Gasteiger

KURIER-Wertung: **** von *****

David Monteagudo – "Ende"

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Der Überraschungserfolg aus Spanien – obwohl der 49-jährige Autor seine Leser auf die Schaufel nimmt. Aber manche haben das ja gern bzw. merken es eh nicht. Jedenfalls treffen sich in "Ende" neun ehemalige Freunde und Freundinnen inkl. Partnern nach 25 Jahren in einer Berghütte.

Sie legen CDs ein, plaudern, trinken. Dann geht das Licht aus. Handys funktionieren nicht mehr. Autos starten nicht. Und einer nach dem anderen aus der alten Clique verschwindet. Agatha Christie? Nein, bloß Mystery. Nur ein schwarzer Punkt (der noch dazu schrumpft) bleibt übrig.

Man muss schon sehr gutmütig sein, um sich damit zufriedenzugeben; und sich einzubilden, man habe eben Großartiges über die Apokalypse gelesen.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: *** von *****

John Hart – "Das eiserne Haus"

Travnicek: Krebs, Tod und rote "Chucks"

Er: Groß, kräftig, mit einem großen Kaliber im Halfter. Sie: Schmal, sonnenbraune Haut, geschmeidig, kleine Hände. Er zu ihr: "Du bist ein prachtvolles Geschöpf."

"Das eiserne Haus" von John Hart ist ein Thriller, der mit Klischees großzügig umgeht.

Hauptdarsteller Michael, dreißig plus, hat als Bub seinen Bruder gerettet. Der wurde daraufhin adoptiert, Michael blieb zurück im Waisenhaus. Später landete Michael auf der Straße, wurde als Teenager Mitglied einer Gang und von einem Gangsterboss an Sohnes Stelle angenommen.

Michael wächst im mafiösen Umfeld des Gangsters, den er wie einen Vater liebt, auf. In seinem Auftrag tötet er. Es trifft aber keine Unschuldigen, beteuert er später. Als er Elena kennenlernt, will er aussteigen. Das kostest Leichen auf fast jeder der 505 Seiten.

Barbara Mader

KURIER-Wertung: ** von *****

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