Schreiben, so wichtig wie Atmen

Schreiben, so wichtig wie Atmen
Sie ist Israels bekannteste Schriftstellerin und hat manchmal das Gefühl, ihr Land „auf ihren Schultern“ zu tragen. Gut, dass Zeruya Shalev darüber mit ihrem Cousin reden kann. Meir Shalev ist ebenfalls Bestsellerautor.

Ihre frühesten Erinnerungen, sagt Zeruya Shalev, haben mit Lesen und Schreiben zu tun. Israels berühmteste Schriftstellerin begann schon mit sechs Jahren, Gedichte zu schreiben. „Schreiben wurde ein Teil meiner Identität, lange, bevor ich überhaupt wusste, was dieses Wort bedeutet.“ Zeruya Shalev, 56, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen der Gegenwart. Sie spricht mit entwaffnender Ehrlichkeit über Liebe und Beziehungen. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie – „Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“ – wurde in mehr als zwanzig Sprachen übertragen. Auch im neuen Roman „Schmerz“ geht es um das schonungslose Offenlegen der Banalität des Beziehungsalltags und um die Untiefen der Liebe vor dem Hintergrund der brutalen israelischen Realität: Protagonistin Iris, Schuldirektorin und Mutter zweier erwachsener Kinder, wurde bei einem Terroranschlag vor zehn Jahren schwer verletzt. Die Schmerzen quälen sie heute noch.

Ähnlich wie ihre Romanheldin, hat auch Zeruya Shalev vor mehr als zehn Jahren einen Terroranschlag knapp überlebt. Am 29. Jänner 2004 wurde sie Opfer eines Anschlags in Jerusalem, wo sich ein Selbstmordattentäter neben ihr in die Luft sprengte. „Ich habe zehn Jahre gebraucht, um meine persönliche Erfahrung literarisch umzusetzen, um Distanz zu gewinnen und anstatt meiner persönlichen eine universelle Geschichte erzählen zu können.“

Als israelische Autorin wird Shalev natürlich immer auch zu politischen Themen befragt:"Manchmal habe ich das Gefühl, ich trage mein Land auf meinen Schultern, wohin auch immer ich gehe." Immerhin kann sie diese Probleme daheim am Familientisch besprechen. Fast alle Shalevs haben mit Literatur zu tun. Ihr Vater war Literaturkritiker Mordechai Shalev, ihr Onkel der Schriftsteller Yitzhak Shalev, Vater des Bestsellerautors Meir Shalev. Auch er, obwohl nebenbei politischer Kommentator, findet es zuweilen anstrengend, als Schriftsteller immer zur aktuellen Politik Stellung nehmen zu müssen."Ich verstecke meine politischen Ansichten ja nicht. Aber wenn ich über eine Reise zum Mars schreibe, will ich nicht, dass jemand hineininterpretiert, dass die Juden nun den Nahen Osten verlassen", scherzt er.

Ergänzt werden die familiären Autorenbande von Zeruya Shalevs Lebenspartner Eyal Megged, ebenfalls Autor, und Tochter Marva Shalev-Marom, die auch schreibt. Dann wäre da noch ihr Bruder Aner Shalev, im Hauptberuf Mathematikprofessor, er schreibt ebenfalls nebenbei. Und die Eltern ihres Mannes Eyal schreiben natürlich auch.

Schreiben, so wichtig wie Atmen
epa04659161 Israeli writer Meir Shalev sits at the stand of Israel at the Leipzig Book Fair, in Leipzig, Germany, 12 March 2015. About 50 years after the start of the diplomatic relationships between the two countries, the Leipzig Book Fair puts a focus on the topic. More than a dozen of Israeli writers are invited. About 2,000 publishing houses from 42 countries present their new releases from 12 to 15March. EPA/Jan Woitas
"Man nennt uns in Israel die Autorenfamilie", sagt Meir Shalev (im Bild). Wie man sich eine Familienzusammenkunft im Hause Shalev vorstellen darf? "Also, wir reden nicht ständig über Bücher. Sondern, wie ganze normale Leute auch, über die Familie, unsere Wehwehchen und natürlich über Politik. Manchmal erwähnen wir eines unserer neuen Bücher und wir unterstützen einander dabei, Cover oder Titel auszuwählen. Mit meinem Mann Eyal geht es schon auch um inhaltliche Dinge. Manchmal streiten wir über die Entscheidungen, die unsere Romanhelden treffen," erzählt Zeruya Shalev.

Die Liebe zur Literatur und zum Schreiben wurde den Shalevs in die Wiege gelegt. "Es war keine bewusste Entscheidung, es kam von selbst, so wie das Atmen. Bevor wir selbst lesen konnten, las uns mein Vater vor: Bibelgeschichten, Ilias und Odyssee und sogar Kafka!", erinnert sie sich. "Literatur ist meine große Liebe, und sie bestimmt mein Leben."

Zur Person: Zeruya Shalev
1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Zeruya Shalev Bibelwissenschaften und ist heute eine der wichtigsten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Ihre Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt. Bekannt wurde sie bei uns mit dem Roman „Liebesleben“, der 2007 verfilmt wurde.

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Shalev
Der neue Roman: "Schmerz" Die Mittvierzigerin Iris, Schuldirektorin und Mutter zweier fast erwachsener Kinder, wurde bei einem Terroranschlag vor zehn Jahren schwer verletzt. Zwar ist sie in ihr altes Leben zurückgekehrt, ihr Mann Micky steht ihr treu zur Seite, doch quälen sie Tag für Tag Schmerzen. Als sie ihrer Jugendliebe Eitan wiederbegegnet, wirft sie das völlig aus der Bahn. Eitan hatte sie damals plötzlich verlassen, und Iris hat diesen Verlust nie ganz verwunden. „Schmerz“ erscheint am 14. September im Berlin Verlag. Übersetzt wurde das Buch von Mirjam Pressler. 24,70 Euro.

Weitere Titel von Zeruya Shalev: Außerdem auf deutsch erhältlich sind die Romane „Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“ sowie das Kinderbuch „Mamas liebster Junge“.

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Shalev
Zur Person: Meir Shalev
Geboren 1948 in Nahalal, Israel, arbeitete Meir Shalev viele Jahre als Journalist und Moderator. Heute ist er einer der bekanntesten israelischen Romanciers. 2006 erhielt er für sein Gesamtwerk den Brenner Prize, Israels höchste literarische Auszeichnung. Er veröffentlichte etliche Kinderbücher und ab 1988 Romane. Zu Shalevs berühmtesten Romanen gehört „Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger“, ein liebevoller Blick auf die Gründergeneration Israels, (2011, Diogenes). Dem KURIER erzählte Shalev, welches er für sein bestes Buch hält: das Kinderbuch „Wie der Neandertaler den Kebab erfand“ (Diogenes, 1997).

Das ganze Interview:

„Politik und Literatur sind kein würdiges Paar“

Die Schriftstellerin Zeruya Shalev spricht im Interview zu ihrem neuen Roman „Schmerz“ über ihre Liebe zur Literatur, über israelischen Alltag, über Familie und wie es ihr gelang, die Folgen eines Terroranschlags, dem sie 2004 zum Opfer fiel, zu verarbeiten.

KURIER: Frau Shalev, was bedeutet Ihnen Literatur?

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Shalev
Zeruya Shalev:Literatur ist meine große Liebe und bestimmt selbstverständlich meine ganze Art zu leben. Sie gibt meinem Leben Sinn, Berechtigung, Trost, Freude und auch Schmerz. Sowohl das Schreiben als auch das Lesen sind enorm wichtig für mein Leben. Die frühesten Erinnerungen, die ich habe, sind die an mein schreibendes und lesendes Ich. Ich begann mit sechs Jahren, zu schreiben, sobald ich das Alphabet konnte, und es wurde ein zentraler Teil meiner Identität, noch lange, bevor ich überhaupt wusste, was das bedeutet. Es war keine Entscheidung, es kam ganz natürlich, wie das Atmen. Bevor wir lesen lernten, pflegte mein Vater uns wunderbare Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen. Geschichten aus der Bibel, der Ilias und der Odyssee, und sogar Kafka!

Sie sind eine der wichtigsten israelischen Schriftstellerinnen, Ihre Romane wurden in 21 Sprachen übersetzt. Stört es Sie, dass die Menschen von israelischen Autoren immer erwarten, zur Politik Stellung zu nehmen?

Es stimmt, es ist nicht einfach, eine israelische Autorin zu sein. Ich habe oft das Gefühl, mein Land auf den Schultern zu tragen, wohin auch immer ich gehe. Und ja, ich werde oft zur Politik befragt. Ich habe auch kein Problem damit, darüber zu sprechen und die Komplexität unseres Lebens hier zu beschreiben, aber ich habe sehr wohl ein Problem damit, wenn man von mir erwartet, dies zu zentralen Themen meine Romane zu machen. Auch wenn ich in Israel lebe, bin ich doch an den inneren Welten mehr interessiert; den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Ich versuche, Gefühle präzise zu beschreiben, auf Nuancen zu achten sowohl in den Gefühlen als auch in der Sprache. Ich finde das ganz besonders innerhalb der brutalen israelischen Realität wichtig. Israelischer Alltag ist der Hintergrund meiner Romane, aber nie das Hauptthema. Das gilt auch für Politik. Ich glaube nicht, dass Politik und Literatur ein würdiges Paar abgeben. Politik tendiert zu Oberflächlichkeit und Vulgarität, während Literatur kompliziert und komplex ist.

Iris, die Protagonistin Ihres neuen Romans, leidet an lebenslangem Schmerz; an Wunden, die niemals geheilt sind: An einer verlorenen Liebe und den Folgen eines Attentats. Sie haben selbst vor elf Jahren ein Selbstmordattentat in Jerusalem überlebt. Wie schmerzhaft ist es für Sie, über jemanden mit ähnlichen Erfahrungen zu schreiben?

Ich habe zehn Jahre gebraucht, um meine persönliche Erfahrung literarisch zu verarbeiten. Ich hatte diese Zeit wohl nötig, um den Schmerz vorübergehen zu lassen und mir eine gewisse Distanz aufzubauen, aus der ich das Trauma untersuchen kann und anstatt meiner eigenen Geschichte eine universelle zu machen. Zeit und persönliche Arbeit haben es mir ermöglicht, über Iris Erfahrung zu schreiben und mich von meiner zu befreien. Während des Schreibens fühlte ich ihren Schmerz, nicht meinen.

Kann man Iris’ nie heilenden Schmerz auch als Metapher für die Geschichte Israels lesen?

Romane können auf vielfältige Weise gelesen werden, und deshalb ist die ursprüngliche Intention des Autors irrelevant. Als ich „Schmerz“ schrieb, dachte ich nicht an Israels Schmerz, aber es ist eine interessante Idee, ich werde definitiv darüber nachdenken! Iris ist zweifellos ein Opfer der israelischen Realität: Ihr Vater wurde im Krieg getötet, als sie ein Kind war und sie selbst wurde später bei einem Terroranschlag schwer verletzt. Am Ende des Buches scheint sie von ihrem Schmerz und den inneren Konflikten zwischen Vergangenheit und Gegenwart in gewisser Weise erleichtert. Leider kann ich nicht behaupten, dass das auch für den Konflikt in Israel gilt.

Sie sind Schriftstellerin, Ihr Vater Mordechai Shalev war Literaturprofessor, Ihr Onkel ist der Schriftsteller Yitzhak Shalev, Vater des Romanciers Meir Shalev. Ihr Mann ist der Autor Eyal Megged ihre Tochter Marva Shalev-Marom schreibt auch: Wie darf man sich ein Familientreffen der Shalevs vorstellen? Sprechen Sie auch noch über andere Dinge als Bücher?

Sie haben meinen Bruder Aner Shalev vergessen, der Mathematikprofessor ist, aber auch schreibt. Ebenso wie die Eltern meines Mannes. Und trotzdem reden wir nicht oft über Bücher beim Familientreffen. Wir haben eigentlich ganz normale Diskussionen – Kinder, Beschwerden, unsere Wehwehchen und Politik. Natürlich erwähnen wir auch manchmal unsere Romane, ganz besonders, wenn es einen neuen gibt, aber das ist selten das Hauptthema. Wir helfen einander, Titel oder Cover auszusuchen, technische Dinge. Eyal und ich tendieren dazu, intensiver über unser Schreiben zu sprechen. Wir fragen einander um Rat und kritisieren einander und manchmal streiten wir sogar über Entscheidungen, die unsere Protagonisten treffen!

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