"Oh Boy": Die Absurditäten des Alltags

"Oh Boy": Die Absurditäten des Alltags
Er raucht, trinkt, hat sein Jus-Studium hingeschmissen, ist abgebrannt und seine Freundin hat ihn verlassen. Und doch ist Niko Fischer, der Protagonist in Jan Ole Gersters Spielfimdebüt "Oh Boy", der einzig beneidenswerte Charakter in dieser Geschichte.

Oh Boy“ ist ein neuer Berlin-Film mit Tom Schilling in der Hauptrolle eines verlorenen Endzwanzigers, der durch die Stadt strawanzt und auf der Suche nach Wahrhaftigkeit ist; und einer Tasse stinknormalen Kaffee. Einen richtigen Plot gibt es in dem Sinn nicht, dafür sehr viel einfühlsame und zum Brüllen komische Momente. Niko Fischer (gespielt von Tom Schilling) lebt in den Tag hinein und ist dabei eigentlich nur Zaungast seines eigenen Lebens. Der Vater dreht ihm den Geldhahn zu, ein Psychologe erklärt ihn für emotional unausgeglichen und sein neuer Nachbar beklagt sich ungefragt über sein nicht vorhandenes Liebesleben, und bringt auch noch scheußliche Fleischbällchen mit.

In seinem Spielfilmdebüt führt uns Regisseur Jan Ole Gerster die Absurditäten des Alltags vor und wie skurril es wirkt, wenn diese einmal hinterfragt werden. Ausgestattet ist „Oh Boy“ außerdem mit einem großartigen Soundtrack, die Titelnummer ist von Get Well Soon, und auch Tom Schilling gibt einen Song zum Besten.

Im Interview sprach Tom Schilling mit uns über seine eigene Entwicklung, die Zusammenarbeit mit dem befreundeten Regisseur Jan Ole Gerster und den ewigen Berlin-Hype.

Wenn man sich deine Biografie so ansieht, hat man das Gefühl, dass du eigentlich nie Schwierigkeiten hattest, deinen Weg zu finden. Du wurdest mit 12 vom Schulhof wegengagiert für ein Theaterstück am Berliner Ensemble, 2000 kam der Durchbruch mit „Crazy“. Kennst du das Gefühl nicht recht zu wissen wohin? Wie bei Niko?
Nein. So eine Krise wie sie die Hauptfigur hat, hatte ich nicht. Auch nicht im Kleinen. Ich hab‘ meine Schule fertig gemacht und in dieser Zeit schon Filme gedreht. Dann war ich plötzlich fertig. Da hat man sich vielleicht kurz gefragt, was man jetzt eigentlich ist oder macht; aber dann wusste ich, ich bin jetzt wahrscheinlich Schauspieler. Das ging dann auch so weiter und es kam auch gar nicht mehr infrage, dass ich irgendwas studiere, weder Schauspiel noch was anderes. Ich hatte damals schon das Glück, interessante Rollen zu bekommen und habe in der Arbeit mit Regisseuren vielleicht genauso viel gelernt, wie ich auf einer Schauspielschule gelernt hätte. Wenn man ehrlich ist, ist das beinahe schon das Gegenteil von Niko Fischers Leben. Fast schon fremdbestimmt. Klar, ich kann Sachen absagen, aber es werden immer so viele Sachen an mich herangetragen, dass ich eigentlich nur beschränkt die Richtung bestimmen kann. Aber ich bin nicht unglücklich mit der Reise.

Eindrücke aus dem Film "Oh Boy"

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In seiner ganzen Hilflosigkeit wirkt Niko für mich trotzdem irgendwie stark. Er hat keine Allüren und überspielt nichts. Er ist, wie er ist. Diese unmittelbare Art macht es ihm nicht immer leicht. Wie geht man als Schauspieler an so eine Figur heran? Ist es schwierig jemanden zu „spielen“, der so pur ist?
Ich kann so schlecht über meine Arbeit sprechen, was natürlich eine blöde Voraussetzung für ein Interview ist. Aber ich habe mich kaum vorbereitet auf den Film. Ich hab‘ eher versucht mich komplett zurückzunehmen und eigentlich nur die Hülle zu sein für den Blick auf die Welt von dem Regisseur. Für mich ist es auch eher ein Gesellschaftsporträt und Niko Fischer verkörpert diese Figur, mit der der Zuschauer in die Gesellschaft eintauchen kann. Es war für mich gar nicht so schwer herzustellen, glücklicherweise ist es aufgegangen.

Ist Niko Fischer ein Sympathieträger?
Es besteht natürlich die Gefahr, dass man die Hauptfigur als nervig empfindet oder sich wünscht, dass er den Arsch hochkriegt. Der Film wird auch sehr unterschiedlich aufgenommen. Zum Beispiel gibt es Menschen, die mit dem Film überhaupt nichts anfangen können, mit der Sensibilität der Hauptfigur und diesem dezidierten Blick. Eigentlich hat er ja ein ganz großes Interesse an der Welt. Er ist zwar dadurch isoliert, dass er anders lebt als die meisten anderen Menschen oder anders, als die Gesellschaft das von Endzwanzigern erwartet. Besonders die Leistungs- und die Spaßgesellschaft, da muss man sich ja ins Leben reinwerfen und wird zu einer gewissen Oberflächlichkeit verführt. Wenn jemand was anders macht, ist es erstmal merkwürdig. Insofern ist der Film auch sehr assoziativ und lässt sehr viel Raum zur Interpretation und zum eigenen Empfinden. Die Leute, die damit nichts anfangen können, würden sich so etwas vielleicht auch nicht erlauben. Ich hab ja auch immer versucht, ihn als positive Figur zu spielen und verteidige ihn auch in Interviews. Ich finde ihn eher sinnlich und mutig in seiner Verweigerung, eine Verweigerung dem Banalen gegenüber.

Was er sich denkt, sagt er auch…
Richtig. Er ist sehr pur und durchlässig als Figur. Das führt vielleicht auch dazu, dass diese unterschiedlichen Menschen, auf die er trifft, ihm so bereitwillig irgendwelche Geschichten erzählen und ihn kurz in ihrem Leben haben wollen.

Coming-of-Age-Filme gibt es viele. Was ist das Besondere an „Oh Boy“?
Naja, es gibt gute und schlechte Filme zu dem Thema. Es gibt Filme, die gedreht wurden, mit dem Ziel ein Generationenporträt zu sein und es aber am Ende komplett verfehlen, weil man sich das gar nicht vornehmen kann. Ohne jetzt vermessen klingen zu wollen, ich bin ein großer Fan von dem Film und stolz auf die Arbeit. Vor allem: Mit dem, was Jan Ole Gerster hier geleistet hat, gliedert er sich eher in die guten Beispiele ein. Ich finde den Film relativ nah an Sachen, die ich toll finde. An diesen Figuren, die irgendwie dem Leben abhanden gekommen sind. Niko hat schon so eine geistige Verwandtschaft zu Antoine Doinel (Anmerkung: Der Protagonist aus einer Filmreihe von François Truffaut) oder Holden Caulfield ( „Der Fänger im Roggen“).

„Oh Boy“ ist der erste Spielfilm von Jan Ole Gerster. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Phantastisch. Aber dadurch, dass wir eng befreundet sind, gibt es auch eine gewisse Seelenverwandschaft. In vielen Dingen sind wir derselben Ansicht oder finden Sachen gemeinsam spannend. Deshalb mussten wir uns auch gar nicht groß auseinandersetzen. Wir haben uns mehr unterhalten über den Ton und Referenzen zu der Geschichte und der Figur. Am Set spürte man überhaupt nicht, dass er noch nie einen Film gemacht hat. Er hat wirklich seinen Beruf gefunden und die Gabe schreiben zu können, Geschmack zu haben und Freude an der Inszenierung. Alles, was ein Regisseur meiner Meinung nach braucht. Für mich ist er der perfekte Regisseur.

Du bist selbst in Berlin aufgewachsen? Was bedeutet dir die Stadt?
In erster Linie Heimat. Außer einem halben Jahr, das ich in New York verbracht habe, war ich auch nie woanders. Meine Familie ist da, all meine Freunde sind da und sind alle mit Leibe und Seele mittlerweile die besseren Berliner, obwohl sie woanders herkommen. Das war dann auch ein ziemlicher Aha-Effekt beim Schauen des Filmes, weil Jan Ole hat ja einen sehr genauen Blick auf die Stadt hat. Wenn ich den Film schaue, denke ich mir: Stimmt! Das ist die Stadt, in der ich lebe und so sehe ich sie auch. Aber ich könnte das nie so erzählen, weil das alles für mich eine viel zu große Selbstverständlichkeit hat, dass ich da lebe.

Kannst du mit dem Hype um Berlin etwas anfangen? Was macht die Stadt aus?
Ja, ich kann‘s verstehen. Berlin ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber auch mehr als diese Party- und Touristenmetropole.

Warum ist der Film deiner Meinung nach in Schwarz-Weiß?
Die Idee entstand daraus, dass die Geschichte sehr autobiographisch ist und Jan Ole dadurch vielleicht auch ein bisschen Distanz und Abstand und Abstraktion zu sich selbst gewinnen wollte. Allein die Tatsache, dass wir so viel darüber sprechen, aber auch ganz viele Leute sagen, dass der Film so schön aussieht, spricht für diese Entscheidung. Vielleicht schärft es auch die Sinne, dadurch, dass es reduziert ist. In der Fotografie stellt keiner die Frage, warum Schwarz-Weiß? Warum nicht im Film auch?

Niko ist den ganzen Film über auf der Suche nach einem stinknormalen Kaffee, der wird im Film schon fast zum komödiantischen Element. Wofür steht diese Tasse Kaffee und die Sehnsucht danach?
In jedem Fall ist der Kaffee als recht einfache Metapher für die Sinnsuche der Figur zu verstehen. Vielleicht ist es auch der Versuch der Figur in der ganzen Orientierungslosigkeit wenigstens ein Ziel zu geben, nämlich den Kaffee.

Ich habe gelesen, du hättest auch gerne Malerei studiert. Malst du heute noch?
So etwas kann man glaub' ich nur ganz machen. Ich kann jetzt nicht nebenbei Malerei studieren. Da würde man mich wahrscheinlich auch nicht nehmen an der Kunsthochschule. Man kann natürlich wie Armin Müller-Stahl nebenbei ein paar Aquarelle malen, aber dazu habe ich fast zu wenig Zeit. Das letzte Mal hab' ich vor einem halben Jahr ein Porträt meiner Freundin gemalt. Das hängt jetzt bei uns im Badezimmer. Aber ist nicht schlecht geworden.

Kennst du das Gefühl, dass dir die Leute um dich herum merkwürdig erscheinen? Und je länger du darüber nachdenkst, desto klarer wird dir, dass nicht die Leute, sondern du selbst das Problem bist.
Ja, das fragt man sich doch ganz oft. Ist ein bisschen abhängig von der Tagesform. Mal wacht man auf und nimmt es mit Sartre: "Die Hölle, das sind die anderen." Und manchmal denkt man aber auch, vielleicht liegt man falsch. Das ist eine Frage, die einen immer wieder beschäftigt. Kennt aber wahrscheinlich jeder, oder?

Am Ende hat man doch das Gefühl, dass Niko irgendwie aufgerüttelt wird. Außerdem bekommt er seine lang ersehnte Tasse Kaffee. Was ist mit ihm passiert?
Ich weiß nicht. Das muss glaub ich jeder für sich selber klären. Etwas passiert mit ihm, das ist klar. Es ist ja aber auch eine sehr denkwürdige Begegnung zum Schluss. Er fühlt sich immer zu den Leuten hingezogen, die so eine Wahrhaftigkeit ausstrahlen.

Was ist dein nächstes Projekt?
Momentan dreh' ich „Posthumous“, eine romantische Komödie einer Debütantin aus L.A. Als nächstes ist aber „Ludwig II.“ zu sehen, der sollte im Dezember rauskommen. Da hab' ich Ludwigs noch verrückteren Bruder Prinz Otto gespielt. Der mit Ende 20 eingewiesen wurde und da auch nicht mehr rauskam. Und später nach Ludwigs Tod, was die wenigsten wissen, Schattenkönig geworden ist. Offiziell König von Bayern, aber eigentlich in einer Nervenheilanstalt eingesperrt. Was ganz anderes…

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