Joana de Verona: "Es war alles sehr aggressiv"

Die Portugiesin Joana de Verona (links) spielt im zweiten Teil – „Der Verzweifelte“ – von Miguel Gomes’ dreiteiligem Opus Magnum „1001 Nacht“: „Das Ärgste haben wir hinter uns“.
Die portugiesische Schauspielerin Joana de Verona über Miguel Gomes’ Krisen-Epos "1001 Nacht".

Arbeitslosigkeit, Armut, Verbitterung: Das waren für den portugiesischen Regisseur Miguel Gomes ("Tabu") die Angelpunkte seines sechseinhalbstündigen Werks "1001 Nacht" (ab heute im Kino). In drei Teilen zeichnet er die Verwerfungen nach, die Misswirtschaft, Wirtschaftskrise und die in Folge auferlegte Austeritätspolitik in seinem Land verursacht haben.

Ein Opus Magnum, auf das man sich einlassen muss, das aber dafür mit tiefen Eindrücken und viel Poesie – Scheherazade erzählt die Geschichten der betroffenen Menschen wie Märchen – entschädigt wird.

Die Schauspielerin Joana de Verona, die im 2. Teil, "Der Verzweifelte", mitwirkt, präsentierte den Film bei der Viennale. Ein Gespräch über Krise und Hundeglück.

KURIER:Miguel Gomes wirkt sehr desillusioniert über die Situation in Portugal. Teilen Sie diesen Pessimismus?
Joana de Verona: Ich bin nicht so pessimistisch wie Miguel, was aber vielleicht auch an meiner jungen Sicht der Dinge liegt. Ich denke, die Situation hat sich zuletzt wieder gebessert. Das Ärgste haben wir hinter uns. Natürlich ist es nicht leicht, weil so viel gekürzt und eingespart wurde. Es war alles sehr aggressiv, wie gegen die Menschen vorgegangen wurde. Uns Jungen wurde vom Premierminister ganz unverhohlen nahegelegt zu emigrieren, wenn wir ein gutes Leben haben wollen. Miguel Gomes zeigt einfach die Realität der Jahre 2013 und 2014, aber er wollte sicher keinen ganz düsteren Film machen. Deswegen steckt ja auch ganz viel Ironie und Poesie in "1001 Nacht".

Die Mischung von Realität und Surrealismus macht die Geschichten fassbarer.
Ja, das hat Miguel wunderbar hinbekommen. Er mischt Scheherazades Erzählungen mit tatsächlichen Begebenheiten. Den Mörder Simao, der übrigens von einem Laien gespielt wird, hat es wirklich gegeben und er ist auch wirklich als Held gefeiert worden von den Dorfbewohnern, als er verhaftet wurde. Einer der ihren, trotz allem, was er getan hat. Auch die Geschichte vom alten Ehepaar, das in dem tristen Vorstadt-Wohnblock lebt, ist wahr. Sie waren arm und krank und haben beschlossen zu gehen, weil sie nicht mehr weiter wussten.

Der glücklichste Darsteller in der gesamten Trilogie ist zweifellos Dixie, der kleine Hund des alten Paares. Soll das heißen, nur die Tiere, die nicht über ihre Situation reflektieren, sind zufrieden?
Es stimmt: Dixie ist eine vierbeinige Glücks- und Liebhabmaschine. Die Menschen sind traurig, frustriert, depressiv, und er ist das Gegenstück dazu: ein Knäuel voll Hoffnung und Freude. Ich mag diese Geschichte vom glücklichen Hund und den traurigen Menschen sehr, nicht nur, weil ich da mitspiele und quasi Dixie von dem alten Ehepaar erbe. Sie ist einfach tierisch menschlich. Ich spiele ja auch noch eine zweite Rolle, nämlich die Tochter der Richterin, die entjungfert wird. Da gibt es leider keine Dixie.

Die Richterin, die in einem Amphitheater Prozess hält und erkennt, dass die Situation zu verworren ist, um ein gerechtes Urteil zu sprechen, hält symbolisch Gericht über ganz Portugal, oder? Über Portugals Versäumnisse, und die Komplexität der Probleme.
Die Richterin verliert, je länger sie den Angeklagten zuhört, die Kontrolle über das Tribunal – genau so, wie sie die Kontrolle über mich, ihre Tochter, verloren hat. Sie beginnt zu weinen, weil sie merkt, dass all das Unrecht, das geschehen ist, nicht mehr ausgeglichen werden kann. Es überfordert sie. Das ist symbolisch für unsere Politik.

Wie haben Sie Miguel Gomes kennengelernt?
Jeder in Portugal kennt sich irgendwie. Die Filmszene ist klein, man ist sich schon irgendwo begegnet, hat irgendwo mit jemandem gearbeitet. Eine richtige Künstler- und Kreativenfamilie. Miguel habe ich zum ersten Mal bewusst bei der Berlinale 2012 wahrgenommen, als er dort "Tabu" präsentierte. Lustigerweise sind wir im Gespräch draufgekommen, dass wir in Lissabon in derselben Straße wohnen. Wir können uns also nicht mehr verfehlen.

Denken Sie, dass so ein Monstrum von Film wie "1001 Nacht" auch ein Publikum außerhalb von Festivals findet?
Ich glaube ja. In Frankreich ist der Film schon gelaufen und ist dort sehr gut angekommen. Das war so ein Rock-’n’-Roll-Ding: Hast du schon den 1. Teil gesehen oder nur den 2.? Dir reicht der 2. Teil? Nein, wir müssen uns unbedingt noch den 3. anschauen. Das war nicht wie "Ich gehe in einen Film", sondern wie ein Event, das man erlebt haben muss. Auch in Portugal gab es großen Zulauf, aber da sind natürlich alle betroffen. Wir sind schon sehr gespannt, wie er in Brasilien oder in Deutschland, den für uns großen und wichtigen Märkten, ankommt.

Die absolute Besucherzahl von 98.200, die im Jahr 2014 erreicht wurde, ging heuer auf 94.100 zurück, die Auslastung sank von 81,7 Prozent auf 76, 4 Prozent. Von insgesamt 377 Vorstellungen waren diesmal 123 ausverkauft.

"Dass die Besucherzahlen von Jahr zu Jahr nicht beliebig zu steigern sind, ist wahrscheinlich für niemanden eine Überraschung", verlautbarte Hurch, der seit 1997 Leiter des Festivals ist, in einer Aussendung: Auch in diesem Jahr sei die Viennale ein Beweis für die Vielfalt und Qualität sowohl des österreichischen wie auch des internationalen Kinos gewesen.

Tops und Flops

Besonders großer Beliebtheit erfreute sich bei den Zusehern das Programm zum österreichischen Genre-Kino "Aus Fleisch und Blut", der Schwerpunkt zu Filmen aus Griechenland und die Personale des jungen uruguayanischen Filmemachers Federico Veiroj. Hinter den Erwartungen hingegen blieb das Programm zu Ida Lupino und die Hommage an den portugiesischen Filmemacher Manoel de Oliveira.

Filmpreise

Obwohl es auf der Viennale keinen Wettbewerb gibt, werden dennoch Preise vergeben. Der Wiener Filmpreis für den besten österreichischen Spielfilm des vergangen Jahres geht an Veronika Franz und Severin Fiala für ihren famosen Horrorfilm "Ich seh Ich seh". In der Begründung der Jury heißt es, dem Film gelinge es, "in der ’totalen Projektion’ von Phantasma, Wahn und visueller Oberfläche ein ’Reales’ aufzuzeigen, dem nicht zu entkommen ist."

Der Preis für die beste österreichische Doku geht an Jakob Brossmanns eindringliche Doku "Lampedusa im Winter", in dem vom Alltag der Inselbewohner zwischen Flüchtlingsströmen und den eigenen, widrigen Lebensverhältnissen erzählt wird.

Der Film mache Mut "durch die Schilderung der zivilen und institutionellen Haltung der Menschen von Lampedusa, insbesondere der Frauen", begründete die Jury ihre Entscheidung.

Die Preisträger erhalten jeweils 17.000 Euro an Geld- und Sachpreisen.

Der FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik für den besten Erst- oder Zweitfilm ging an die syrische Doku "Coma" von Sara Fattahi.

Für "Ich seh Ich seh" ist der Wiener Filmpreis nur ein weiterer Höhepunkt in der Erfolgsgeschichte des Spielfilmerstlings von Veronika Franz, ehemaliger Filmkritikerin des KURIER, und ihrem Drehbuch- und Regiepartner Severin Fiala. "Ich seh Ich seh", der eine verstörende Geschichte von Zwillingsbuben und ihrer unheimlichen Mutter erzählt, erhielt bereits den großen Diagonale-Spielfilmpreis und kandidiert für den Auslandsoscar.

In den USA lief "Ich seh Ich seh" höchst erfolgreich unter dem Titel "Goodnight Mommy" und spielte über eine Million Dollar ein – das beste US-Einspielergebnis unter all jenen Filmen, die für den Auslandsoscar nominiert wurden. Und erst kürzlich listete das US-Pop-Magazin Rolling Stone "Goodnight Mommy" unter den dreizehn besten Horror-Filmen des Jahres 2015 auf, die man unbedingt gesehen haben muss.

Kommentare