Lass mich beweinen: Formschöne Frage nach dem Erbarmen

Das Wasser steigt: In Jelineks "Die Schutzbefohlenen" im Burgtheater hat das Ensemble niemals trockene Füße.
Michael Thalheimer inszenierte fast zu meisterhaft "Die Schutzbefohlenen".

Der einzige Vorwurf, den man dieser hinreißend gebauten Inszenierung machen kann: Dass sie fast zu hinreißend gebaut ist. Sie scheint sich an der eigenen Perfektion und Eleganz zu erfreuen. Dadurch wirkt sie angesichts des Themas fast zu selbstsicher. Fragen stellen wollte Regisseur Michael Thalheimer, kündigte er im KURIER-Interview an: Fragen stellen, statt Antworten zu verkünden. Das tut Thalheimer auch. Aber man merkt, dass er sehr wohl auch Antworten zu haben glaubt.

Worum geht es in diesem Text? Elfriede Jelinek hat unter dem Eindruck der Votivkirchen-Besetzung durch verzweifelte Flüchtlinge im Winter 2012/’13 und der Tragödien im Mittelmeer einen Text geschrieben, der auf antike Motive zurückgreift: Wer an den Altären um Schutz fleht, darf nicht zurückgewiesen werden.

Jelineks Text ist meisterhaft gebaut, voller philosophischer Verweise und galliger Wortspiele, er ist gleichzeitig Anklage wie Entschuldigung für diese Anklage. Wir sind jetzt da, sagen die zur Flut anschwellenden Stimmen, und wir leben.

Reduktion

Michael Thalheimer beweist in seiner Inszenierung wieder, dass er ein Meister der Reduktion ist: Er hat Jelineks Text auf die Hälfte eingekürzt – und ihn dadurch tatsächlich noch besser gemacht.

Thalheimer künstlerischer Partner Olaf Altmann hat einen beengten, hohen, schwarz glänzenden Bühnenraum gebaut, der sowohl Schiff als auch Kirchenschiff sein kann, im Hintergrund klafft ein kreuzförmiger Riss. Durch diesen zwängen sich die Flüchtlinge herein und stolpern sofort ins Wasser, welches den Boden schon knietief bedeckt, die Gesichter zunächst mit Plastikmüll verhüllt. Das sind große, sehr, sehr starke Gesten – man sieht sofort Grenzzäune und Stacheldraht vor sich, und im Meer treibende Körper.

Thalheimer löst den Text in Chören und Soli auf, das 15-köpfige Ensemble arbeitet präzise und stets wortdeutlich, die manchmal brüllend laute, dann wieder ganz leise Musik von Bert Wrede intensiviert die Wirkung. Der Höhepunkt des Abends: Als das Thema der Einbürgerung von Opernstars mit bitterem Sarkasmus abgehandelt wird, betritt eine Opernsängerin in einem flüchtlingszeltgroßen Kleid die Bühne und singt Händels Arie "Lascia ch’io pianga" – lass mich beweinen.

Diese 90 Minuten kurze Aufführung ist keine gespielte Kolumne, sondern ein Kunstwerk. Sie bildet Realität nicht nach, sondern verarbeitet sie ästhetisch. Sie ergreift Partei, sie klagt an, sie verleiht Stimme. Sie fleht um Schutz. Und sie fragt nach dem Erbarmen. Einziger Einwand: Sie ist so formschön, dass sie den Zuschauer dazu einlädt, sich an dieser Formschönheit zu erfreuen und über das Erbarmen nicht weiter nachzudenken.

Fazit: Theater der großen Geste

Stück 2014 inszenierte Jelinek-Spezialist Nicolas Stemann im Thalia-Theater die Uraufführung – in dem er Flüchtlinge gemeinsam mit Schauspielern auf die Bühne holte.Inszenierung Michael Thalheimer geht einen anderen Weg und inszeniert besonders kunstvoll: Seine Aufführung ist meisterhaftes Theater der großen Geste.

KURIER-Wertung:

Lass mich beweinen: Formschöne Frage nach dem Erbarmen
 

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