Das letzte Verbrechen der SS

Liegen derzeit in Spoerris Garten in Hadersdorf: die fünf menschengroßen Gliederpuppen aus Bronze für  das Mahnmal „Dead End“
Daniel Spoerri erinnert mit "Dead End" an das Hadersdorfer Massaker im April ’45.

In Hadersdorf am Kamp, einem auffallend idyllischen Ort, ereignete sich am 7. April 1945, wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs, ein unfassbares Massaker. Die SS erschoss an der Friedhofsmauer insgesamt 61 Männer. Die Bevölkerung sah mehr oder weniger zu.

Die Rote Armee stand damals bereits vor den Toren Wiens. Und in der Männerstrafanstalt Stein bei Krems wurden die Lebensmittel knapp. Direktor Franz Kodré entschloss sich daher, die Häftlinge, zu einem Großteil aus politischen Gründen verurteilt, zu entlassen.

Am Vormittag des 6. April durften einige Hundert die Anstalt in Gruppen verlassen. Viele marschierten in Richtung Wien. Gegen Mittag trafen die ersten Männer in Hadersdorf ein. Sie frugen Josef Sumetzberger, den Ortsbauernführer, nach dem Weg. Und dieser alarmierte sogleich die einquartierte Waffen-SS-Einheit 61.

In Stein richteten derweilen die SS und die SA ein Blutbad unter den noch verbliebenen Häftlingen an, Kodré wurde hingerichtet. NSDAP-Kreisleiter Anton Wilthum befahl, die auf freiem Fuß befindlichen Häftlinge zu verfolgen. In Hadersdorf wurden daraufhin alle eintreffenden Männer arretiert.

Am 7. April um 13 Uhr ordnete die NSDAP-Kreisleitung an, dass die SS die ehemaligen Häftlinge zu erschießen habe. Die NSDAP-Ortsgrößen Sumetzberger, Edmund Huber und Richard Kuen begleiteten den Todeszug vom Marktplatz zum Friedhof. Dort zwang die SS die Gefangenen, ihr eigenes Massengrab auszuheben.

Um etwa 16.30 Uhr wurden die Männer erschossen. Das Massaker überlebte einzig Franz Fuchs, ein Wiener Kommunist, der sich als Wirtschaftskrimineller ausgegeben hatte – und daher verschont wurde. Ihm ist die Aufklärung des Verbrechens zu verdanken: Sumetzberger, Huber und Kuen wurden 1947 zu schwerem Kerker verurteilt. Die SS-Einheit 61 und ihre Befehlshaber kamen ungeschoren davon.

1995 besuchte Christine Pazderka, die bei dem Massaker ihren Vater Alois Westermeier verloren hat, Hadersdorf. Auf ihre Initiative hin wurde 2005 ein Verein gegründet, der sich die Errichtung einer Gedenkstätte als Ziel setzte. Vier Jahre später eröffnete Daniel Spoerri, der zwei Jahre zuvor nach Wien gezogen war, in Hadersdorf sein Ausstellungshaus.

Er wollte zunächst nichts mit dem Denkmal zu tun haben. Doch alsbald änderte der Schweizer, aus Rumänien gebürtige Künstler mit jüdischen Wurzeln, dessen Vater von Faschisten getötet worden war, seine Meinung. Ihm schwebte eine Neufassung der Installation "Das Massengrab der Klone" vor, das er in seinem Skulpturenpark in der Toskana realisierte: Am Rand des "Giardino" liegen fünf in Bronze gegossene, menschengroße Gliederpuppen in verrenkter Haltung in einem von einer Mauer umfassten "Massengrab".

Die Bevölkerung wehrt sich nach wie vor gegen ein Mahnmal. Unter dem Titel "Dead End" wird Daniel Spoerris Installation nun neben dem Landesmuseum in St. Pölten errichtet. Bei der Enthüllung am 5. Juni wird der Historiker Robert Streibel sprechen, der über die "Kremser Hasenjagd" eine Doku drehte – und nun einen Roman veröffentlichte (Rezension siehe Artikel unten).

Allmählich ist es an der Zeit, die Leichen am Straßenrand nahe Krems Richtung St. Pölten auszugraben.

Die Stadt wird langsam aktiv, und wenn der 70. Jahrestag des Häftlingsmassakers von Krems-Stein ist, dann ist Krems Mitveranstalter der Gedenkstunde im Gefängnis.

Bis vor Kurzem war man eher ... zurückhaltend mit dem offiziellen Erinnern.

Es ist an der Zeit, jene am 6. April 1945 Ermordeten zu suchen und ordentlich zu bestatten, die an der Straße verscharrt wurden.

Vielleicht ist unter ihnen ein Mann, der einen Witz über Hitler erzählt hatte und deshalb zu drei Jahren verurteilt wurde. Auch könnte dort jemand unter der Erde liegen, der von Nachbarn denunziert wurde, weil er englische Nachrichten hörte. Und möglicherweise ein Grieche, denn aus Griechenland wurden viele Widerstandskämpfer ins Gefängnis nach Stein gebracht.

Alles "Politische", die von Direktor Franz Kodré freigelassen worden waren, als die Rote Armee nur 20 Kilometer entfernt war. (Er war nicht nur "gut", er dachte auch an die eigene Zukunft.)

Falsche Namen

In "April in Stein" heißt Kodré anders, nämlich Adolf Kerr. Hier haben fast alle erfundene Namen.

Trotzdem ist dieses Buch wahrer, als man ertragen kann. Wahrheit kann zumutbar UND unerträglich sein.

"April in Stein" fußt auf Interviews von Robert Streibel mit Überlebenden – entstanden ab den 1980ern – und auf Briefen, Nachlässen, Gerichtsakten.

Der Autor ist gebürtiger Kremser und Historiker (und Leiter der Volkshochschule Hietzing). Die einzige Freiheit, die er sich beim dokumentarischen Erzählen erlaubt hat, ist: Die historischen Lebensgeschichten mehrerer Personen verschmelzen mitunter in einzelnen Romanfiguren.

Und das ist Streibel bereits zu viel an "Ungenauigkeit", um den Jägern und Gejagten ihre richtigen Namen zu geben.

In der Schule hat er (Jahrgang 1959) nichts darüber erfahren:

Am Vormittag ließ Franz Kodré die Tore öffnen. Ruhig marschierten die ersten Gefangenen nach draußen.

Sein Stellvertreter – vom "Endsieg" nach wie vor überzeugt – rief die SA, die Wehrmacht und die Wachauer Bevölkerung zu Hilfe und informierte von der "Häftlingsrevolte", die es nicht gab.

Vor dem Gefängnistor wurde daraufhin ein Maschinengewehr platziert ...

Einige Angeschossene überlebten inmitten der Leichenberge. Etwa jener Wiener Arbeiter, der in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik auf eine Klotür "Hoch die Internationale!" gemalt hatte (= sieben Jahre Zuchthaus).

Das letzte Verbrechen der SS
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Der Stein-Direktor und drei Aufseher wurden an der Friedhofsmauer standrechtlich erschossen.

"April in Stein" geht bei der Schilderung des Massakers nicht ins Detail.

Starben 386? Im Roman wird man diese Zahl nicht finden. Sie wird kolportiert, doch deshalb muss sie nicht stimmen.

Denn nicht alle sind mittlerweile bekannt. Über die Toten an der Straße weiß man überhaupt nichts. Wie viele sind es?

Die namentlich bekannten Opfer hätte man aber schon auflisten können – und eine Zeittafel hätte ebenfalls nicht geschadet. Wäre eine gute Gelegenheit gewesen.

KURIER-Wertung:

INFO: Robert Streibel: „April in Stein“ Residenz Verlag. 208 Seiten. 22,90 Euro.

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