Castorf demontiert "Kasimir und Karoline"

Castorf demontiert "Kasimir und Karoline"
Frank Castorf inszenierte in München so etwas Ähnliches wie ein Stück Ödön von Horváths. Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek spielen grandios.

Ist es erlaubt, eine Sprechtheater-Kritik mit einem Ausblick auf eine Opernpremiere zu beginnen? Diesfalls ist es sogar vonnöten.
Zwei Tage vor der Premiere von Horváths "Kasimir und Karoline" am Münchener Residenztheater wurde offiziell, dass Frank Castorf, der Regisseur dieser Produktion, im Jahr 2013 den "Jubiläums-Ring" in Bayreuth inszenieren wird. Seither rätseln Musikfreunde und Kenner des Castorf'schen Theaterverständnisses: Wie soll sich das ausgehen? Wie will der Mann, der sich wie kein anderer aufs Zertrümmern von Stücken konzentriert, vier Abende lang Wagners Werk linear erzählen? Die Premiere am von Martin Kušej geleiteten Residenztheater hat die Zweifel mehr genährt als ausgeräumt.

Fleischwolf

20 Jahre lang hatte Castorf nicht am "Resi" inszeniert. Nun trieb er dort erstmals Horváth durch seinen theatralischen Fleischwolf. Sein "Kasimir und Karoline" beginnt mittendrin, beim Hippodrom auf dem Oktoberfest. Die Zeitsprünge sind willkürlich. Neue Figuren wurden dazuerfunden, wie etwa Karolines Eltern. Der Schürzinger, der Karoline schöne Augen macht, wird von einer Frau (Bibiana Beglau) gespielt - der selben, die auch die Erna ist, zu der Kasimir, der arbeitslose Chauffeur, am Ende findet. Gemeinsam scheitert sich's halt leichter.

Bei all dieser Demontage gelingt es Castorf aber, die vom Autor intendierte Atmosphäre zu erhalten. Er schafft eine "Ballade voll stiller Trauer, gemildert durch Humor" (Horváth). Mit den hinzugefügten Texten, u. a. von Ernst Jünger, und politischen Manifesten erreicht er eine zusätzliche klassenkämpferische Dimension. Damit verknüpft er auch die Wirtschaftskrise von einst mühelos mit der von heute. Als Erstes spürt man sie beim Toilettenpapier, das Karolines Mutter verkauft.

Dreck

Ja, das Klo: Das spielt in der Geschichte von Dreck und Armut eine zentrale Rolle. Castorf bzw. sein Bühnenbildner Hartmut Meyer stellen zwei Häusln auf die Bühne und sonst nicht viel. Vom Rummelplatz sind nur ein echtes Pony und ein paar schräge Figuren übrig, zwei Dirnen, das Gorillamädchen, die Frau mit Bart, nicht so elegant wie Conchita Wurst.
Mehr brauchen die Protagonisten auch nicht, um die Geschichte von Sehnsüchten und Abstürzen zu entwickeln. Nicholas Ofczarek ist ein hinreißender Kasimir in gestrickten Hosen, selbstironisch bei einer Balletteinlage, dann todtraurig, stets tiefgründig und intensiv. Selbst wenn er sich in den Textmassen verirrt, kreiert er daraus mit der Souffleuse eine charmante Situation.
Birgit Minichmayr ist eine genusssüchtige, orientierungslose Karoline, die sich auch über ihre Rolle als Buhlschaft lustig macht. Bibiana Beglau besticht als Erna, Schürzinger und Rosa. Shenja Lacher (Merkl Franz) überzeugt ebenso wie Götz Argus und Jürgen Stössinger (in mehreren Rollen).

Trotz sinnloser Provokationen (Pinkeln aufs Kruzifix) und kindlicher Wortspiele: Horváth bleibt für jene, die das Theater nicht fluchtartig verlassen, erkennbar. Auch wenn Castorf, sobald es ums Original geht, Distanz schafft, etwa durch riesige Masken. Diese auf 4:20 Stunden gedehnte Aufführung ist um Klassen kurzweiliger, amüsanter und klarer als Castorfs "Spieler" in Wien.

KURIER-Wertung: **** von *****

Fazit: Der nächste Erfolg an Kušejs Residenztheater

Das Stück
Ödön von Horváths "Kasimir und Karoline" (1932 uraufgeführt) in der Bearbeitung von Frank Castorf: zertrümmert, anders wieder zusammengesetzt, mit neuen Texten angereichert. Das im Saal verbliebene Publikum am Münchner Residenztheater bejubelte die Protagonisten und reagierte auf Castorfs Deutung mit Bravi und Buhs.

Das Spiel
Nicholas Ofczarek ist ein fabelhafter, tiefgründiger, selbstironischer, körperlich sehr präsenter Kasimir, Birgit Minichmayr eine exzellente, orientierungslose Karoline. Für das neue Residenztheater (Martin Kušej ist seit Saisonbeginn Intendant) der nächste große Erfolg nach Schnitzlers "Das weite Land".

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