Alfred Kolleritsch warnt vor der Wahrheit

Alfred Kolleritsch
Zum 85. Geburtstag kommt "Allemann".

Passt gut zu der aktuellen Studie, wonach die Steiermark 1933–1938 eine Hochburg "illegaler" Nazis war (Schafranek und Blatnik im Czernin Verlag):

Kurt Waldheim war Bundespräsident, als "Allemann" erstmals erschienen ist; und jetzt hat der Südsteirer Alfred Kolleritsch seinen Roman mit den autobiografischen Zügen überarbeitet – bestimmt nicht deshalb, weil 1989 in der FAZ von "wirren Reflexionen" und "prätentiösem Gerede" die Rede gewesen ist.

Zitat aus der Zeitung:

Dem Vorhaben, eine kompromisslose Absage an den Nationalsozialismus und an dessen Fortleben zu schreiben, sei der Autor sprachlich und gedanklich nicht gewachsen gewesen.

Ausstopfen

"Allemann" hat eine Radikalität, mit der man hoffentlich heute mehr anfangen kann und will; und Kolleritsch – der sich zwar, bescheiden, als Literat selbst nicht so wichtig nahm – darf schon zugestanden werden, eine eigene Poetik zu haben. Sie hat mit den Jahrzehnten bestimmt nicht an Wirkung verloren, im Gegenteil.

In "Allemann" liegt ein Mann auf dem Massagetisch und sieht mit Schrecken seinen Körper. Er sieht Narben, er erinnert sich an Schmerzen. Er erinnert sich, als er während des Nationalsozialismus im südsteirischen Dorf und im Grazer Internat (wo die Kinder "mit Sinn ausgestopft" wurden) aufwuchs.

Er war anders – weil er Würmer im Darm hatte. So was hat kein braver deutscher Junge. Und ein einziger Erzieher, eben dieser Allemann, war ebenfalls anders, nämlich halb blind.

Er ermunterte die Zöglinge, auf ihren Körper zu hören (und zu onanieren, wenn es sie drängt) ... das ist g’scheiter, als den Verkündern der sogenannten Wahrheit zu vertrauen. Denn die Wahrheit kann verrückt werden.

"Alles Endgültige gehört zerstört."

Was geschehen ist, so sagt uns Kolleritsch, darf nicht in die Vergangenheit abgeschoben werden. Darf nicht Geschichte werden. Denn dann wäre der Schritt nicht weit zur Anekdote. Will jemand, dass vom Zweiten Weltkrieg Anekdoten übrig bleiben?

Die von ihm, dem feurigen Deutschlehrer, gegründete Literaturzeitschrift "manuskripte" machte ab 1960 Talente wie Frischmuth, Wolfi Bauer, Handke, Scharang, Jandl, Mayröcker bekannter.

Am 16. Februar wird Alfred Kolleritsch 85. Im aktuellen "manuskripte"-Heft 210 schreiben Herta Müller, Elfriede Jelinek, Jochen Jung, Jürg Laederach ...

Alfred Kolleritsch:
„Allemann“
Nachwort von Thomas Stangl.
Droschl Verlag.
240 Seiten. 20 Euro.

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