König des Dschungels

Claudia Schanza
Vor 100 Jahren entdeckte ein Österreicher die Östlichen Flachlandgorillas im Kongo. Schönbrunn-Direktorin Dagmar Schratter besuchte nun mit einer kleinen Gruppe Abenteurer, darunter auch Altkanzler Wolfgang Schüssel, die vom Aussterben bedrohten Primaten. VON CLAUDIA SCHANZA

Der Prachtkerl sitzt lässig da, verschränkt seine Arme und beobachtet die Besucher. Er strahlt eine natürliche Autorität aus und ist sich seiner körperlichen Überlegenheit bewusst. Chimanuka ist Chef einer großen Familie. Der Silberrücken lebt mit sechs Frauen, neun Kindern und drei pubertierenden Blackbacks – jungen Männchen, deren Rückenhaare noch schwarz sind – im dichten Dschungel des Kahuzi-Biega-Nationalparks.
Hier im Osten der Demokratischen Republik Kongo, früher Zaire und noch früher Belgisch-Kongo, leben nur mehr 154 Östliche Flachlandgorillas in zwölf Familienverbänden. Zwei Gruppen sind daran gewöhnt, dass ihnen zahlende Touristen gelegentlich staunend Gesellschaft leisten und dann wieder im dichten Grün verschwinden. Diese beiden sind „habituiert“, sie dulden also Menschen, die sie beobachten und fotografieren. Gefüttert oder berührt werden dürfen sie nicht.
„Ich weiß nicht, was hinter seiner Stirn läuft. Aber es ist klar, dass etwas läuft. Tiere haben Gefühle. Das ist nicht nur spürbar, sondern auch wissenschaftlich erwiesen, auch wenn wir über die Qualität der Emotionennoch wenig sagen können.“ Dagmar Schratter, die Direktorin des Tiergartens Schönbrunn, ist Verhaltensbiologin und genießt es, dem imposanten Gorilla beringei graueri in die Augen zu sehen. Der kräftige Kerl ist 175 Zentimeter groß und wiegt geschätzte 200 Kilogramm. Grauergorillas sind die größte Unterart dieser Gattung. Die Könige des Dschungels brechen bis zu acht Zentimeter dicke Bambusstämme wie ein Baguette auseinander. Die friedlichen Vegetarier haben mit dem sensiblen Filmmonster King Kong so viel gemeinsam wie der Rosarote Panther mit einer Raubkatze.

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Story: Flachland - Gorillas im Kongo wo05-2016 Claudia Schanza www.schanza.com
Wir sind eine kleine Reisegruppe, uns eint die Sehnsucht gefährdete Tierarten in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Alle haben bereits Berggorillas in Ruanda oder auch in Uganda besucht. Dort wäre es hochriskant, den Blickkontakt zum „Silverback“ zu suchen. Schon der Film „Gorillas im Nebel“, der den Kampf von Dian Fossey in Ruandas Regenwald thematisiert, zeigte, dass Menschen bei Begegnungen beschwichtigend zu Boden sehen sollen. Der frühere Bundeskanzler und Außenminister Wolfgang Schüssel ist Aufsichtsratsvorsitzender des Schönbrunner Tiergartens, er war vor vier Jahren erstmals zum Gorilla-Tracking, damals in Ruanda: „Ich finde es hier entspannter und weniger touristisch als im hochprofessionell organisierten Volcanoes National Park.“
Die Grauergorillas im Kongo sind nicht nur größer, sondern sie ticken auch anders, wie Wildhüter Laurent erklärt. Er hat uns mit Fährtenlesern („Tracker“) zur Chimanuka-Gruppe geführt. Hier klettern die Primaten öfter auf hohe Bäume als Berggorillas, die ihre Nester gerne in Bodennähe bauen. Zoologin Schratter flüstert: „Man hat den Eindruck, der Silberrücken duldet uns, wenn er uns so lange und direkt in die Augen schaut.“ Ich genieße es durch die Linse meiner Spiegelreflexkamera zu sehen und Porträts dieses charismatischen Männchens zu schießen, das eigentlich als Mann bezeichnet werden müsste. Mimik und Körpersprache wecken Assoziationen mit lebenden Personen aus Politik und Wirtschaft. Wenn ein Schwarzrücken nach dem Fressen die Arme verschränkt, sich zurücklehnt und rülpst, muss ich an einen ehemaligen Vorgesetzten in einer Redaktion denken. Eine Gorillamama turnt durch den Bambuswald und schlägt sich den Bauch voll, während sich ein Blackback als Babysitter geduldig mit ihrem quirligen Dreijährigen abmüht. Übrigens: Der Paarungsakt wird mit Blickkontakt vollzogen, in der Tierwelt unüblich. Die Tragezeit dauert neun Monate, die Jungen bleiben jahrelang bei der Mutter, um viel zu lernen.
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Claudia Schanza

Als der österreichische Afrikaforscher Rudolf Grauer vor mehr als hundert Jahren die Östlichen Flachlandgorillas entdeckte, hielt er es für möglich, einen neuen „Menschenstamm“ entdeckt zu haben. Sobald klar war, dass er eine neue Affenart gefunden hatte, verewigte er sich gleich in deren Namen. Die Grauergorillas kommunizieren nicht nur über sehr, sehr intensive Gerüche, sondern auch akustisch. Sie gebrauchen einen anderen Dialekt als die Berggorillas rund 200 Kilometer weiter nördlich an den Vulkanhängen im Dreiländereck Ruanda-Uganda-Kongo. Trotz der vielen kleinen Unterschiede zwischen den beiden Gorilla-Unterarten wundert sich nicht nur Wolfgang Schüssel: „Warum heißen die hier Flachlandgorillas, wenn sie auf einer Seehöhe von 2.000 bis 2.600 Metern leben? Ich hatte da eher an eine Tiefebene gedacht, nicht an einen so hoch gelegenen tropischen Regenwald.“
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Story: Flachland - Gorillas im Kongo wo05-2016 Claudia Schanza www.schanza.com
In dieser Woche sind wir mit unseren beiden Trackings die einzigen zahlenden Besucher. Während Dagmar Schratter beobachtet und gelegentlich Notizen in ihr Büchlein schreibt, fängt Schüssel die Situation verblüffend realistisch mit dem Zeichenstift ein. Nur ich klicke ununterbrochen mit der Kamera, bis es einem Blackback reicht. Er steht auf, kommt auf mich zu, und mir fällt gerade noch ein, dass ich mich nicht rühren soll. Rechts von mir trommelt plötzlich jemand auf seine Brust. Es ist Laurent, der dem Gorilla signalisiert: „Alles okay, wir lassen dich jetzt in Ruhe.“
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Claudia Schanza

Doch die Besuche bei den zwei Gorillagruppen sind nur der Höhepunkt einer Reise, die binnen einer Woche viele Erlebnisse bietet. Schon die Anfahrt zum Kahuzi-Biega Nationalpark gestaltete sich abenteuerlich. Wir kamen aus Ruanda, weil der nächstgelegene Flughafen in der Hauptstadt Kigali ist, während eine Anfahrt über kongolesische Flughäfen aufwendiger und vor allem zu gefährlich gewesen wäre. In Ruanda glitt der Jeep über perfekt asphaltierte Straßen, die Reise durch das Land der 1000 Hügel verlief wie in den Jahren zuvor sicher und angenehm. Viele Kurven bergauf, bergab und wenig Verkehr. Wenn man die tropische Vegetation und die ortstypische Architektur ausblendet, erinnert es an den Weg zur Mühlviertler Alm in Oberösterreich. 250 Kilometer südwestlich von Kigali kamen wir an den Lake Kivu.
Als Guide und Fahrer begleitete uns die ganze Woche Samuel Gasana, er spricht perfekt Englisch, Französisch, Kisuaheli und Kinyrwanda. Die offizielle Sprache im ehemals belgisch unterjochten Kolonialstaat Kongo ist noch immer Französisch, während Ruanda nach dem Genozid auf Englisch umgestellt hat. Sam assistierte uns bei den mühsamen Ausreiseformalitäten an der Ruanda-Grenzstation, danach knatterten wir über eine holprige einspurige Brücke in die Demokratische Republik Kongo. Aus einem Holzverschlag sprang eine Frau in traditioneller Kleidung und schrie unseren Fahrer im Crescendo an, er wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. „Sie will nur Geld, sie ist von der Sanitätsbehörde, aber sie hat nichts zu sagen.“ Zehn Meter weiter im Kongo-Grenzhütterl warteten die nächsten Schikanen. Wir füllten Formulare aus, obwohl wir bereits von Wien aus kompliziert die Visa in Berlin organisiert hatten. Sam erklärte schmunzelnd, warum die Laune der Beamten getrübt ist: „Die freuen sich immer, wenn einer ohne Visum kommt, denn dann können sie zehn oder zwanzig Dollar schwarz kassieren.“
Bukavu ist nicht nur Grenzort, sondern gleichzeitig die Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu, für die eine aufrechte Reisewarnung gilt. Dagmar Schratter hatte die Reise bedenkenlos gebucht, obwohl sie dramatische Erinnerungen an ihr erstes geplantes Gorilla-Tracking hat. Sie war gerade in Ruanda gewesen, als die Massaker der Hutus gegen die Tutsis losbrachen. Diesmal blieben uns allen Zwischenfälle erspart. Wolfgang Schüssel resümiert am Ende der Reise: „Wir haben keine gefährliche Situation erlebt. Allerdings würde ich niemals ohne einen ortskundigen Guide wie Sam hierher kommen.“
Um sieben Uhr morgens brachen wir auf um beim 50 Kilometer entfernten Nationalpark-Büro die Tracker zu treffen. Im Regen fuhren wir über schlammige Straßen, nun wussten wir, warum wir einen Jeep gebucht hatten. Sechs Plastikstühle, ein paar Demonstrationsobjekte auf windschiefen Regalen und frischer Tee warteten unter einer Regenplane auf uns. Kein Vergleich mit den hochprofessionellen Offices in Ruanda oder Uganda. Aber wenig später war Dagmar Schratter hocherfreut, dass wir auf dem Weg zu Chimanuka einen Mundschutz wie im OP anlegen mussten. Bei unseren Besuchen in Ruanda und Uganda war diese Vorsichtsmaßnahme noch nicht üblich gewesen. Übrigens: Nicht wir fürchten uns vor den größten Menschenaffen. Sondern diese müssen vor von uns eingeschleppten Viren geschützt werden, gegen die sie nicht immun sind, wie etwa Schnupfen, Husten, Augenentzündungen. Gorillas teilen 98,3 Prozent des Erbgutes mit dem Menschen. Aber das alleine heiße noch nicht viel, wie Schratter erklärt: „Auch mit dem Schwein haben wir 90 Prozent des Erbgutes gemeinsam, deshalb finde ich es so furchtbar, wie diese armen Tiere gehalten werden. Dennoch: Wenn ich einem Schwein in die Augen sehe, empfinde ich etwas anderes als bei einem Gorilla. Wenn du vor diesem Gorilla sitzt, hast du einen Spiegel vor dir. Es ist auch anders als etwa bei einem Hund, den wir ja auch als Familienmitglied empfinden. Er bleibt immer ein Tier.“ Diese Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr. In der Zoologie gibt es bei den großen Menschenaffen vier Gattungen: Gorillas, Schimpansen, Orang Utans und Menschen. Gorillas sind uns sogar näher verwandt als den Orang Utans, am nächsten sind wir Menschen den Schimpansen (98,8 %).

Obwohl seit 25 Jahren Touristen hierher kommen, ist das Gorilla-Tracking im Kongo noch immer ein Minderheitenprogramm für Abenteuerlustige. Schade, denn die Einnahmen aus dem Tourismus sind für Gorillas die beste Lebensversicherung. Bei beiden Gruppen beobachten wir Primaten, denen eine Hand oder sogar der Unterarm fehlt. Diese Opfer von Wilderern haben es gerade nochmal geschafft, nicht als „Bushmeat“ im Kochtopf zu landen. Dagmar Schratter war entsetzt, als sie vor einigen Jahren hörte, dass „Gästen in einem Brüsseler Restaurant als Delikatesse – außerhalb der Speisekarte – Gorillafleisch angeboten wurde“.

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Claudia Schanza

Um die letzten Primatengruppen im Kahuzi-Biega Nationalpark zu schützen, haben sie Leibwächter: Fünf mit Macheten und Gewehren bewaffnete Fährtenleser folgen jeder Gruppe den ganzen Tag und verlassen sie erst mit Einbruch der Dunkelheit. Neben Wilderern, Rebellen, Bergbau und Infektionen macht den Menschenaffen der ständig schrumpfende Lebensraum zu schaffen. Leoparden und Waldelefanten sind bereits verschwunden. Und den Menschen geht es nicht viel besser. Früher war der Dschungel die Heimat von 6.000 Pygmäen, traditionellen Jägern und Sammlern. Die Regierung vertrieb sie 1970, als der Nationalpark gegründet wurde. Inzwischen versucht die Regierung, wenigstens einige von ihnen als Fährtenleser zu beschäftigen.
Dian Fossey hatte eindringlich gefordert, dass die Berggorillas ungestört leben können. Doch Zoologinnen wie Dagmar Schratter sehen das anders: „Das Beste, was den Gorillas passieren kann, ist Popularität.“ Denn je mehr Besucher kommen, je mehr Einnahmen die Region verbuchen kann, umso größer wird auch im Kongo das Verständnis für den Schutz dieser gefährdeten Art werden.

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