Schach dem Wickel

Schach dem Wickel
Ein Brettspiel beruhigt die Gemüter im Gemeindebau.

Zwei Heurigentische, vier Bänke, vier Schachbretter. Mehr braucht Arash Moradi nicht, um ein Dutzend Kinder im Hof eines Wiener Gemeindebaus zu bändigen.

Moradi, Akademiker aus dem Iran und Bewohner einer großen Wohnhausanlage in der Lechnergasse in Erdberg, freut sich mit den Kindern: "Auch ich habe das Schachspiel in jungen Jahren lieben gelernt."

Weißes Pferd auf d4, akute Gefahr für den schwarzen König! Gebannte Blicke auf das Brett. Ist schon genial, wie wenig notwendig ist, um Menschen im Gemeindebau ein Lächeln zu entlocken.

Herr Moradi freut sich auch, weil ihm seine Schachschüler mehr Wertschätzung entgegenbringen als bisherige Arbeitgeber. Sein siebenjähriger Sohn Siavash und die Nachbarkinder sind wiederum froh, dass sie endlich jemand ernst nimmt. Was auch die Eltern erleichtert zur Kenntnis nehmen.

Und auch die sonst eher kinderskeptischen älteren Mieter zeigen sich wohlwollend. Denn das Springen des weißen Rössels erzeugt absolut keinen Lärm und folgt noch dazu einer Logik, die ein gewisses Maß an Bildung voraussetzt.

Seit 2010

Schach dem Wickel
Schach im Gemeindebau – das ist eine typische Wiener Geschichte. Am Anfang, im Jahr 2010, nicht viel mehr als eine gute Idee. Nur wenige konnten sich vorstellen, dass sich diese Idee auch in die Realität umsetzen lässt.

Es ist der Geduld und dem Durchsetzungsvermögen der Soziologin Snježana Čalija zu verdanken, dass heute alle von dieser Idee überzeugt sind. Čalija arbeitet für die Wohnpartner von Wiener Wohnen, die den Auftrag haben, das Zusammenleben der 500.000 Wiener und Wienerinnen im Gemeindebau zu verbessern. Sie hat ihre Kindheit und Jugend in Sarajevo verbracht, zu einer Zeit, als die dort unterschiedlichen Volksgruppen noch gut miteinander konnten. Als in der schönen Jahreszeit neben Fußball auch viel Schach gespielt wurde.

Warum, fragte Čalija einen Kollegen, soll das nicht auch in Wien funktionieren. "Auch ich war am Anfang skeptisch", erzählt Christian Srienz, Soziologe wie seine Chefin. Und darüber hinaus anerkannter Schachtrainer. "Aber dann sind wir in einen Gemeindebau im 22. Bezirk gegangen, in dem sich viele Mieter vom Lärm belästigt fühlten. Und die Reaktionen waren sehr positiv."

Ein Schachbrett ist eine ideale Plattform, eine Mini-Begegnungszone für Menschen unterschiedlicher Herkunft. Buddhisten dürfen hier Katholiken matt setzen, Serben mit Kroaten oder Albanern fachsimpeln, der Adi aus Großjedlersdorf kann jederzeit den Ali aus Kleinasien herausfordern. Jung gegen Alt: ein Spiel, kein Krieg.

Kein Bauernopfer

Schach dem Wickel
16 weiße Figuren, 16 schwarze Figuren, 32 weiße Felder, 32 schwarze Felder. Der Rest ist Spielglück. Čalija und Srienz beobachten mit Genugtuung: Beim Schach reden auch jene miteinander, die vorher meinten, dass sie sich nicht verstehen.

Angenehmer Nebeneffekt: Beim Anblick der in das Schachspiel vertieften Kinder tun sich auch jene schwer, die am Liebsten vom Krawall im Gemeindebau reden.

Unterstützung erhalten die Wohnpartner vom Wiener Schachverband. Dessen Präsident, Christian Hursky, freut sich seinerseits, dass dem Königsspiel, das knapp vor der vollen Anerkennung als Sportart steht, "mehr Aufmerksamkeit geboten wird". Sein Verband schickt auch in diesem Jahr 13 ausgebildete Trainer mit eigenen Spielekoffern in die Wiener Gemeindebauten. Die werden alle Hände zu tun haben. Denn mit Anfang Mai startet die große Tour durch alle Wiener Bezirke (siehe Turnierkalender unten). In jedem Hof soll ein Trainer zur Seite stehen.

Und vielleicht kommt ja der nächste Großmeister aus dem Wiener Gemeindebau. Arash Moradi setzt insgeheim auf seinen talentierten Sohn. Vielleicht kann er das erreichen, was ihm selbst als Kind leider verwehrt blieb: In Ruhe auf einer Parkbank sitzen und sein Gegenüber sportlich matt setzen. Das ist hier in Erdberg eine Selbstverständlichkeit. Das war in seiner Heimat – und das ist heute gar nicht so weit von Wien entfernt – völlig undenkbar.

Termine

Die nächste Veranstaltung findet am 6. Mai im Josef-Bohmann-Hof in Wien 22 statt. Großes Finale ist dann am letzten Wochenende im August. Bis dato sind bereits knapp 140 Schachturniere in ganz Wien fixiert. Übersicht aller Termine: www.chess-vienna.at, www.wohnpartner-wien.at.

Teilnahme

Teilnehmen kann grundsätzlich jede/r, der/die gerne Schach spielt oder Schachspielen lernen möchte (ausgebildete Trainer stehen mit Rat zur Seite). Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Einzige Teilnahmebedingung:

Es gelten, so ein Wohnpartner, die allgemeinen Regeln des Fairplays.

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