Sadismus in Heimen hatte System

Sadismus in Heimen hatte System
Eine Befragung von ehemaligen Heimkindern bestätigt: Gewalt und Missbrauch standen an der Tagesordnung.

Zahlreiche Betroffene psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt haben in den vergangenen vier Monaten ihr Leid aus der Zeit in Wiener Kinderheimen geschildert. Die meisten Vorwürfe stammen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Im Ö1 Morgenjournal hat nun der Psychiater und Neurologe Ernst Berger erklärt, dass dieser „systematische Sadismus“ bis in die 1990er-Jahre in Kinderheimen gelebt wurde.

Mehr als 900 Menschen haben sich bei der Opferschutzorganisation Weisser Ring als Betroffene von Gewalt in Kinderheimen gemeldet. Mit 100 von ihnen hat der Psychiater Ernst Berger in den vergangenen eineinhalb Jahren Gespräche geführt. Und obwohl das laut Berger nur ein „kleiner Ausschnitt“ von „Zigtausenden Heimkindern“ ist, ließen sich Rückschlüsse auf die Gesamtheit ziehen.

Das Ergebnis, das Berger liefert, ist erschreckend: Die Gewalterlebnisse von Heimkindern zwischen 1945 und den 1990er-Jahren „unterscheiden sich weder inhaltlich noch quantitativ“, sagt Berger im KURIER-Gespräch. Bis in die 1990er-Jahre wurde der Sadismus in der Erziehung aus der Nazi- und Nachkriegszeit fortgesetzt.

Berger spricht von „Formen von fast systematischem Sadismus, wo Kinder entwürdigt und Situationen ausgesetzt worden sind, die man als öffentliche Beschämung bezeichnen muss“.

Toleriert

Berger sagt, dass 98 Prozent seiner Befragten psychischer Gewalt ausgesetzt waren. An 95 Prozent seiner Befragten wurde körperliche Gewalt angewendet. Knapp 50 Prozent wurden Opfer von sexueller Gewalt, von Erziehern gleichermaßen wie von Mitzöglingen. Die männlichen und weiblichen Erzieher hätten das toleriert, erklärt der Psychiater.

Viele von denen, die damals missbraucht wurden, leiden heute noch unter den Folgen: Mehr als die Hälfte von ihnen lebte in instabilen Partnerschaften, 12 Prozent seien nie Partnerschaften eingegangen, und nur ein Drittel hätte stabile Partnerschaft gehabt.

36 Prozent wurden Opfer der von Berger so definierten „Allgemeinen Gewaltpädagogik“, also einer damals von der Gesellschaft akzeptierten Form von Gewalt, unter die etwa die g’sunde Watschn oder das Scheitlknien fallen. „Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass diese totalen Institutionen eine Brutstätte solcher Situationen waren“, sagt der Psychiater.

Mehr als ein Viertel der Befragten fand sich nach der „Heimkarriere“ in der Kriminalität wieder.

Berger greift kein spezielles Heim heraus. Die Vorwürfe betreffen nicht nur den Wilhelminenberg oder die Hohe Warte, sondern ziehen sich „quer durch eine Menge anderer Heime“. Dabei mache es auch keinen Unterschied, ob die Institutionen von Bediensteten der Stadt Wien oder von Geistlichen geführt wurden.

Die Situation der öffentlichen Kinderbetreuung habe sich mittlerweile „strukturell verändert“, sagt Berger. Großheime wurden ab Mitte der 1990er-Jahre zugesperrt, Wohngemeinschaften gegründet.

Gesetz

Berger tritt im Gespräch mit dem KURIER vehement für eine „längst fällige Änderung des Jugendwohlfahrtsgesetzes“ ein. Drei Entwürfe habe es bereits gegeben, die „von den Ländern abgelehnt“ wurden. „Die Umsetzung ist ihnen zu teuer gewesen“, sagt Berger. Konkret will der Psychiater die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher im Gesetz festgeschrieben wissen. „Auch wenn man sagen muss, dass die Ausbildung heutzutage weitgehend in Ordnung ist.“ Bis in die 1970er-Jahre habe es laut Berger fast ausschließlich „nahezu unausgebildete Erzieher“ gegeben.

Die Arbeitsbedingungen in Wohngemeinschaften und Heimen müssten ebenfalls gesetzlich geregelt werden. Berger: „Hier geht es um die Frage der Supervision und der Kommunikation innerhalb der Teams.“ Auch das Zahlenverhältnis, wie viele Kinder ein Erzieher betreuen kann, müsse in den Gesetzestext einfließen.

Heime und Wohngemeinschaften heute

Großheime gehören der Vergangenheit an. Das Kinderheim im Schloss Wilhelminenberg wurde als Erstes bereits 1977 geschlossen, nach und nach folgten weitere Einrichtungen. Mit dem Heim in Biedermannsdorf in Niederösterreich endete die Schließung der Großheime im Jahr 2005.

Heute sind rund 3000 Kinder und Jugendliche in der Obsorge der Stadt Wien. Rund die Hälfte wohnt bei Pflegeeltern oder Verwandten. 1500 sind in Wohngemeinschaften (WGs) und kleinen Heimeinrichtungen untergebracht.

Insgesamt hat die Stadt Wien derzeit 80 WGs eingerichtet, meist in herkömmlichen Wohnungen. Acht Kinder und Jugendliche sind in einer WG-Gruppe. Ziel ist es vor allem, individuell auf die betreuten Kinder einzugehen.

Krisenzentren Weiters gibt es in Wien 14 Krisenzentren. „Dort sind die Kinder maximal sechs Wochen untergebracht“, sagt die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits. In den Krisenzentren wird „abgeklärt, ob die Kinder wieder zu den Eltern zurückkönnen, oder in städtische Betreuung übernommen werden“, erklärt Pinterits.

Daneben gibt es noch einige Heimeinrichtungen, wie etwa den Lindenhof in Eggenburg in Niederösterreich, wo laut Auskunft der zuständigen Magistratsabteilung 11 „60 bis 70 Jugendliche“ leben. Die männlichen Zöglinge können dort eine Lehre zum Automechaniker, Schlosser, Bäcker, Fleischhauer oder Tischler absolvieren. Im Lehrlingsheim Aichhorngasse sind 22 Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren untergebracht. Sie sind in eine große WG, die auf zwei Gruppen aufgeteilt ist, untergliedert. Zehn Betreuer kümmern sich abwechselnd um die Jugendlichen. Weitere noch existierende Heime sind Stiefern am Kamp und Pitten (alle in Niederösterreich).

Laut MA 11 wird letzteres, das vor wenigen Wochen wegen sexuellen Missbrauchs in den Schlagzeilen war, bald aufgelassen. Die dort untergebrachten Kinder sollen in neue Wohngemeinschaften in Wien eingegliedert werden.

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