Autor Glavinic über die Eislady: "In dieser Frau brodelt es"

Estibaliz Carranza wurde zu lebenslanger Haft mit der Auflage der Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Der Schriftsteller Thomas Glavinic besuchte die Doppelmörderin Estibaliz Carranza in der Haft. Im Interview gibt der Autor eiskalte Einblicke, welcher ungewöhnlichen Persönlichkeit er begegnete. Und was die Faszination eines Mörders ausmacht.

Seit einer Woche sorgen die Memoiren der Eislady Estibaliz Carranza für viel Diskussionsstoff. Darf man einer Doppelmörderin ein derartiges Forum geben? Darf eine Killerin ihre Version der Morde veröffentlichen? Der Autor Thomas Glavinic (42) geht noch einen Schritt weiter. Er besuchte die Eislady und wird bei der Buchpräsentation auch aus ihrer Biografie lesen. Der KURIER fragte nach, wie das Treffen zwischen der Mörderin und dem Schriftsteller in Haft ablief.

KURIER: Herr Glavinic, wonach sucht man als Schriftsteller, wenn man eine Doppelmörderin besucht, die ihren Opfern in den Kopf geschossen und sie zerstückelt hat?

Thomas Glavinic: Das wusste ich selber nicht so genau. Bei Ferdinand von Schirach habe ich ein interessantes Zitat eines Mörders gelesen, der meinte: "Ich habe hinter einen Vorhang geschaut, hinter den Sie nie schauen werden." Das stimmt wahrscheinlich. Einmal hatte ich einen Traum, in dem ich zum Mörder wurde. Das war ein entsetzliches Gefühl, das ich bis heute abrufen kann. Und Estibaliz Carranza ist ja noch weiter gegangen. Zwischen den Morden lagen zudem mehrere Jahre. Da kann man nicht von einer Affekthandlung sprechen. Sie hat einige Jahre mit dem Tatwissen gelebt. Mich hat interessiert, ob ich etwas an diesem Menschen entdecke, was ich noch nie gesehen habe. Und ob es etwas, was in dieser Frau steckt, auch in mir gibt. Ich bin überzeugt, dass sich da Übereinstimmungen finden.

Im Buch schreibt Estibaliz Carranza selbst, sie wurde zur Bestie. Sind Sie einer Bestie begegnet?

Nein. Aber ich hatte das Gefühl, einem sehr ungewöhnlichen Menschen zu begegnen, bei dem ich nicht weiß, was man ihm alles zutrauen kann. In dieser Situation denkt man auch an die Opfer und an die Gefühle der Hinterbliebenen. Dann blickt man auf die Hände dieser zarten Frau, die 55 Kilo wiegt, und denkt: Diese Hände? Diese Hände haben Dinge getan, zu denen ich wahrscheinlich nicht fähig wäre.

Steckt das Böse in jedem von uns?

Ich bin überzeugt davon, dass es keinen Menschen gibt, der nur gut ist, und keinen, der durch und durch böse ist. Es ist oft nur eine ganz dünne Linie, die uns von einer ganz anderen Biografie und etwas Unwiderruflichem trennt. Die Gefühle, die uns sehr nahe an eine Affekthandlung bringen, kennt jeder von uns.

Anders gefragt: Wirkte Estibaliz Carranza harmlos auf Sie?

Nein. In der Frau passiert viel, da brodelt es. Die Vibes, die beim Treffen spürbar sind, sind schon bemerkenswert. Trotzdem habe ich viele Menschen kennengelernt, die bösere Augen und dunklere Blicke hatten als Estibaliz Carranza.

Wie äußert sich das Brodeln?

Sehr schwer zu schildern. Sie wechselt ziemlich ansatzlos von einem Thema zum anderen. Man spürt eine unterschwellige Aggression gegenüber Menschen, von denen sie sich enttäuscht fühlt. Ich spüre schon, dass da etwas in ihr steckt, das diesen Menschen nichts Gutes will. Aber auch das habe ich schon bei anderen Menschen erlebt, bei Estibaliz hat es allerdings eine gewisse Drastik. Ich bin zwar kein Psychologe, aber über eine überdurchschnittlich ausgeprägte Affektkontrolle scheint sie nicht gerade zu verfügen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass wir zwei auf einer Wellenlänge sind. Da fragt man sich natürlich, was das über einen selbst aussagt. Aber das heißt nicht, dass ich in irgendeiner Weise ihre Taten rechtfertigen will.

Die Eislady hat also eine gewisse Faszination ...

Natürlich hat sie eine Faszination. Menschen, die so weit über die Grenzen gehen, die uns die Zivilisation gelehrt hat, sind durchaus faszinierend. Ich möchte wissen, wie so jemand tickt.

Wie legt man das Gespräch mit einer Mörderin an? Thematisieren Sie ihre grausamen Taten?

Nein, gar nicht. Es war ein sehr amikales Gespräch. Ich trat ihr ohne jegliche Vorurteile entgegen. Wir haben über den Alltag in der Haft gesprochen, wie sie von den anderen Häftlingen und den Justizwachebeamten wahrgenommen wird. Das hat einen Grund: Wenn man über die Tat selbst spricht, erfährt man weniger über die Person. Über die Nebenschauplätze komme ich zu mehr Informationen über ihre Persönlichkeit.

Keine Angst vor einem Truman-Capote-Erlebnis?

Damit möchte ich mich nicht vergleichen. Der hatte ein sexuelles Verhältnis mit Perry Smith. Und gegen die Taten von Estibaliz Carranza wirken Capotes Mörder wie Kleinkriminelle.

In den eben erschienen Memoiren der Eislady beschreibt sie die Morde so, dass eine Art Regisseur bei den Taten das Zepter übernommen hat. Ist die Erklärung nicht zu einfach?

Ich bin kein Psychiater, aber ich bin überzeugt, dass in ihrem Kopf viele seltsame, komplexe Dinge abgelaufen sind. Vor allem die Tötungsfantasien, die sie schon als junge Frau hatte, sind interessant. Diese hat sie über die Jahre hinweg kultiviert, konnte mit niemandem darüber sprechen und wurde so zur Zeitbombe. Dass irgendwann der große Knall kommt, wundert mich nicht. Wir bewegen uns alle auf einer Linie, wo auf der einen Seite die Normalität und auf der anderen Seite die Pathologie ist. Estibaliz war in einem pathologischen Bereich, wo zum Glück nicht viele landen.

Sie wird in Haft psychologisch betreut. Haben Sie das Gefühl, dass Estibaliz Carranza das Böse in sich schon besiegt hat?

Das kann nur ein Fachmann beurteilen. Ich stelle mir manchmal vor, wie Adolf Hitler nach 1945 beim Psychologen sitzt und der Psychiater versucht, seine Kindheit, seine Wut zu analysieren. Was ich mit dem Bild sagen will: Ich glaube nicht, dass man jemanden, der einen pathologischen Hang zum Morden hat, erklären oder analysieren kann.

Im Buch schreibt die Eislady auch, dass sie Selbstmord begehen wollte. Sehen Sie die Doppelmörderin als suizidgefährdet?

Der letzte Mensch, den sie töten würde, ist sie selbst. Die Autoaggression, die viele Menschen in sich tragen, hat sie nicht. Esti hat kein grundsätzliches Problem mit sich selbst.

Wie haben Sie sich verabschiedet?

Am Ende gab es das obligate Abschiedsbussi auf die Wangen. Natürlich fragt man sich: Darf meine eine Mörderin küssen? Aber warum nicht? Ich mag sie.

Autor Glavinic über die Eislady: "In dieser Frau brodelt es"
ABD0035_20141114 - WIEN - ÖSTERREICH: ZU APA0074 VOM 14.11.2014 - Das Buch "Meine zwei Leben - Die wahre Geschichte der Eislady" (Bild) von Estibaliz Carranza und der Journalistin Martina Prewein wird kommenden Samstag, 22. November 2014 in den Handel kommen. - FOTO: APA/EDITION A/UNBEKANNT - +++ WIR WEISEN AUSDRÜCKLICH DARAUF HIN, DASS EINE VERWENDUNG DES BILDES AUS MEDIEN- UND/ODER URHEBERRECHTLICHEN GRÜNDEN AUSSCHLIESSLICH IM ZUSAMMENHANG MIT DEM ANGEFÜHRTEN ZWECK ERFOLGEN DARF - VOLLSTÄNDIGE COPYRIGHTNENNUNG VERPFLICHTEND +++
Interviews sind mit Estibaliz Carranza sind nicht erlaubt. Ihr Anwalt Werner Tomanek besuchte die Doppelmörderin im Gefängnis und arbeitete einen Fragenkatalog für den KURIER durch. Hier die interessantesten Antworten.

... über das Buch Alle möglichen Menschen haben meine Geschichte schon erzählt, Staatsanwälte, Psychiater und Journalisten. Ich habe zwei Menschen getötet und dafür die schwerste Strafe erhalten, zu der ein österreichisches Gericht verurteilen kann. Diese Strafe verbüße ich jetzt. Das nimmt mir aber nicht das Recht, meine Geschichte selbst zu erzählen.

... über das Honorar Ich habe auf mein Honorar verzichtet. Seit ich ein Kind habe, weiß ich, was es bedeutet, einer Mutter ihren Sohn zu nehmen. Es wäre zynisch, wenn ich mit meiner Geschichte Geld verdiene.

... über die Morde Ich rechtfertige meine Morde an keiner Stelle meines Buches. Ich habe beide Männer geliebt. Ich hatte den verrückten Gedanken, mich unterordnen zu müssen, umso mehr, je schlechter sie mich behandelt haben. Ich habe nicht gemerkt, dass ich ihr Verhalten damit erst provoziere. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu verlassen. Aber etwas Böses in mir, das ich nun überwunden habe, gab mir die Kraft, sie zu töten.

... über den Sohn Er kommt mit meiner Mutter einmal im Monat aus Spanien und darf drei Stunden zu mir. Ich bereite mich auf die Besuche vor. Ich bastle kleine Geschenke für ihn. Dann versuche ich, Normalität herzustellen. Wir spielen. Jetzt denkt er noch, ich bin in einem Krankenhaus.

... über eine Freigabe des Sohnes zur Adoption Es ist auch eine Form von Grausamkeit, einem Kind seine Familiengeschichte vorzuenthalten. Etwas, das man kennt, mit dem kann man auch umgehen lernen. Bei etwas, das man nicht kennt, ist man ohnmächtig.

Buchtipp: Meine zwei Leben. Die wahre Geschichte der Eislady. Erschienen in der edition a um 19,95 Euro.

Eine Chronologie der wichtigsten Eckdaten des spektakulären Kriminalfalles:

27. April 2008: Estibaliz C. tötet laut Anklage in ihrer Wohnung ihren geschiedenen Mann Holger H., während ihr dieser sitzend den Rücken zukehrt. Demnach feuert sie aus einer Pistole der Marke Beretta, Kaliber 22, aus nächster Nähe zweimal auf seinen Hinterkopf und einmal in seine Schläfe. Sie versucht laut Staatsanwaltschaft zunächst, die Leiche in ihrer Wohnung zu verbrennen, bricht dies wegen der starken Rauchentwicklung ab und kauft in den nächsten Tagen eine Kettensäge, zerteilt den Toten und friert ihn zunächst ein. Im Herbst 2008 betoniert sie die Leichenteile in einer Wanne ein und lagert diese in einem Kellerabteil unter ihrem Eissalon "Schleckeria" in der Oswaldgasse ein. Das Motiv dürfte darin gelegen sein, dass Holger H. nicht aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen wollte.

21./22. November 2010: Nach einem gemeinsamen Abend kommen Estibaliz C. und ihr Lebensgefährte Manfred H. nach Hause. Laut Anklage wartet die Beschuldigte, bis ihr Freund schläft, kleidet nach den Erfahrungen des ersten Mordes die Wände und den Boden mit einer Plastikfolie aus und tötet den Mann mit vier Schüssen aus kurzer Distanz in seinen Hinterkopf. Mit einer zuvor besorgten Kettensäge zerteilt sie die Leiche und betoniert sie ebenfalls in Wannen im Keller unter dem Eissalon ein. Für Manfred H. soll seine wiederholte Untreue das Todesurteil gewesen sein.

26. November 2010: Wegen wiederholter Nachfragen seiner Verwandten meldet die Angeklagte Manfred H. als abgängig.

6. Juni 2011: In seinem Geschäftslokal, das sich ebenfalls im Haus des Eissalons "Schleckeria" befindet, baut ein Mieter um und muss im Keller neue Installationen vornehmen. Dazu bricht er das mit einem Vorhängeschloss gesicherte Kellerabteil mit der Nummer 6, das laut mehreren Hausbewohnern niemandem zugeordnet werden kann, auf und entdeckt eine Faustfeuerwaffe sowie die mit Beton gefüllten Mörtelwannen. Er verständigt die Polizei. Diese fördert in mehreren mit Beton gefüllten Maurertrögen, Blumentöpfen und drei Kühltruhen die Leichenteile, die von einer Sachverständigen als Holger H. und Manfred H. identifiziert werden.

7. Juni 2011: Die Angeklagte hört in ihrem Eissalon zufällig, wie der Entdecker der Leichen gegenüber einer ihrer Mitarbeiterinnen davon spricht, er hätte den "Manfred" gefunden. Sie flüchtet, lässt sich von einem Freund ihren Reisepass aus der Wohnung holen und ein Wertkartenhandy besorgen, hebt von ihrem Sparbuch 10.000 Euro ab und leert ihr Bankschließfach. Sie fährt mit einem Taxi zum Flughafen, bucht ein Ticket nach Paris, flüchtet aber wegen des späten Flugtermins aus Angst, festgenommen zu werden, wieder vom Airport nach Wien und steigt am Busbahnhof in ein weiteres Taxi. Die Ermittler haben tatsächlich am Gate schon auf sie gewartet. Der Lenker bringt sie nach Udine, wo er unter seinem Namen ein Hotelzimmer für sie mietet.

8. Juni 2011: Estibaliz C. verlässt das Hotel und kommt wieder den Ermittlern zuvor. Diese haben bereits mit dem Taxilenker gesprochen und die italienischen Kollegen ersucht, sie in dem Hotel festzunehmen. Am Bahnhof von Udine lernt sie einen Straßenkünstler kennen und bringt ihn dazu, sie bei ihm aufzunehmen. Ihm fällt ihr Interesse an dem Kellerleichen-Fall im Internet auf, außerdem äußert sie Selbstmordgedanken. Er verständigt schließlich die Polizei.

9. Juni 2011: Die Polizei identifiziert einen der Toten als den Lebensgefährten von Estibaliz C.

10. Juni 2011: Italienische Polizisten verhaften die Beschuldigte in Udine. Sie wird in ein Krankenhaus eingeliefert, weil sie im zweiten Monat schwanger ist. Vater ist ihr neuer Lebensgefährte.

24. Juni 2011: Die Verdächtige wird von den italienischen Behörden an die österreichische Justiz ausgeliefert. In Udine hat sie zuvor den italienischen Behörden die Taten im Prinzip gestanden, bei den Einvernahmen in Wien zeigt sie sich zunächst relativ verschwiegen.

11. Jänner 2012: Estibaliz C. wird in einem Wiener Krankenhaus Mutter eines gesunden Buben. Unmittelbar nach der Geburt wird das Baby seinem Vater übergeben. Letztlich wird das Kind nach Barcelona zu den Eltern der Angeklagten gebracht.

29. März 2012: Die Angeklagte heiratet den Kindesvater: In der Vernehmungszone der Justizanstalt Wien-Josefstadt geben Estibaliz C. und ihr Lebensgefährte, der 47-jährige Roland R., einander das Ja-Wort.

4. Juli 2012: Details des psychiatrischen Gutachtens zu der Angeklagten werden bekannt. Darin beschreibt die Gutachterin die Frau als "Prinzessin", die "sich erhofft, von einem Mann 'gerettet' zu werden". Sie habe sich ihren jeweiligen Partnern völlig untergeordnet, sei dabei aber nicht glücklich geworden. Da Estibaliz C. nicht imstande sei, von ihr nicht mehr erwünschte Beziehungen zu beenden, "bleiben im Wesentlichen nur mehr deviante Auswege", hält die Gerichtspsychiaterin fest. Selbstmord komme für Estibaliz C. nicht infrage, weshalb der Ausweg in der "Elimination desjenigen Hindernisses" bestünde, "das einer neuen und erhoffterweise vorteilhafteren Beziehung im Weg steht".

5. September 2012: Die Staatsanwaltschaft Wien erhebt Anklage gegen Estibaliz C. wegen Mordes an Holger H. und Manfred H. und beantragt die Einweisung der Angeklagten in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Der Prozessbeginn wird in weiterer Folge für den 19. November festgesetzt.

22. November 2012: Estibaliz C. wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

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