Terror hinterlässt hartnäckige Spuren

Augenzeugen könnten unter posttraumatische Störungen leiden, so Psychologen. Nach 9/11 habe es aber einen „Prozess des Erwachsenwerdens“ gegeben.

Ein Horrortrip in fünf Tagen: Das ist es, was hinter den Menschen von Boston liegt, der Arbeiter- und Uni-Stadt an der Ostküste der USA. Erst ein Anschlag auf den jährlichen Marathonlauf in der Stadt mit Sprengsätzen in Dampfkochtöpfen, ebenso primitiv wie verheerend in ihrer Wirkung. Dann die mutmaßlichen Attentäter, die ausfindig gemacht werden – der nächste Schock: ein tschetschenisches Bruderpaar. Keine psychisch instabilen Gewalttäter aus den USA, keine El-Kaida-Terroristen, eine neue Gefahr. Schließlich die Jagd nach den Brüdern, die Boston lahmlegt, bis Freitagabend dann der überlebende Dschochar Zarnajew gefasst wird.

Er und sein Bruder haben wohl den Boston-Marathon als Ziel erkoren – und ihn damit zu einem Albtraum gemacht, der bei den Betroffenen und Augenzeugen dauerhafte psychologische Spuren hinterlassen wird. Die Ziellinie sollte eine Stelle des Triumphs sein, oder der Enttäuschung, falls man unter der eigenen Bestzeit gelaufen war. Als sie die erste Explosion hörten, glaubten die meisten an ein Feuerwerk. Erst nachdem sich der weißgelbe Rauch verzog und man Blutlachen auf dem Boden und abgerissene Glieder sah, begannen alle zu verstehen, was wirklich passiert sei, so erzählen die Augenzeugen.

Für die Verletzten und die Familien der Toten werde das besonders schwer sein, sagte Edna Foa, Professorin für klinische Psychologie und Psychiatrie an der Pennsylvania Universität, zum KURIER. „Sie werden länger an posttraumatischen Störungen leiden, an Albträumen und Depressionen. Manche werden nie wieder Marathon laufen, oder sie werden das Gefühl haben, die Welt sei kein sicherer Ort.“ Foa ist eine der führenden Experten für posttraumatische stressbedingte Störungen.

Alles oder gar nichts wissen wollen

Bereits in ihren ersten Reaktionen zeigten viele der Opfer den unterschiedlichen Zugang zur Aufarbeitung der Tragödie, die sie miterlebt haben. Nachdem sie aus der Anästhesie aufgewacht waren, wollten manche der Schwerverletzten gleich genau alles über den Anschlag wissen. Andere aber wollten gar nichts davon hören. „Es gibt verschiedene Typen von Menschen – manche kommen mit Traumata zurecht, indem sie sich ablenken und weiter mit ihrem Leben fortfahren. Sie brauchen nichts zu wissen. Es gibt aber auch diejenigen, die alle Einzelheiten haben wollen“, so der Psychologe George Bonanno zum KURIER. Er ist Leiter des Labors für Verlust-, Trauma und Emotionen bei der US-Eliteuniversität Columbia in New York, wo er über die Belastbarkeit von Menschen und das Zurechtkommen mit Trauer und Trauma forscht.

Abgesehen aber von den Grausamkeiten des direkt erlebten, sei das Ereignis schlimm, weil es eine erneute Attacke auf die USA aus dem Ausland sei. Hätten Amerikaner selbst den Anschlag geplant und ausgeübt , wäre der Schock für die Menschen geringer gewesen, sagt Foa: „Amerikaner sind gewöhnt an verrückte Einheimische, die Menschen umbringen. Die USA sind eine Gesellschaft, in der es viele Aggressionen gibt. Menschen bringen andere ohne jeden Grund um.“

Aus Schock von 9/11 gelernt

Die Attacke vom 11. September 2001 war der erste Terroranschlag auf US-Boden in der Geschichte – abgesehen von Pearl Harbor 1941. Lange Zeit hatten die Amerikanern das Gefühl, vom Rest der Welt isoliert, unangreifbar und in Sicherheit zu sein. Das habe sich aber geändert, erklärt Bonanno. Weil man aus der Erfahrungen vom 11. September gelernt hat, werden die psychologische Auswirkungen nach den Boston-Anschlag weniger gravierend sein, ist er überzeugt. „Unser Land war sehr beunruhigt und ängstlich nach dem 11. September, aber seitdem hat es viel gelernt. Die Menschen haben sich angepasst.“

Seit dem 11. September haben sich die Amerikaner an den Gedanken gewöhnt, dass es für sie auch eine Gefahr zu Hause gebe. Zudem habe man seitdem viele Berichte über aufgedeckte Anschlagspläne gehört. Boston sei einfach ein Versuch gewesen, der geglückt sei, und was dies nun unmittelbar bedeute, sei, dass man mit noch strengeren Sicherheitsmaßnahmen leben müsse. „Die Menschen werden das hinnehmen. Es gab gewissermaßen einen Prozess des Erwachsenwerdens, was dieses Thema angeht.“

Viele Augenzeugen werden Zeit brauchen, um die Erfahrungen in Boston aufzuarbeiten. In den Tagen nach dem Anschlag sind Läufer immer wieder zum Ort des Anschlags zurückgekommen. Sie trugen noch ihre blau-gelben Jacken mit dem Einhorn-Logo der Sportveranstaltung und, anstatt nach Hause zurückzukehren, standen sie einfach vor den Polizeisperren rund um den Anschlagsort. Für die Psychologin Foa ist das eine normale Reaktion. „Die Menschen wollen einfach aufarbeiten, was passiert ist.“ Es gebe verschiedene Wege, das zu tun. „Manche haben das Gefühl, es wird eine Art Abschluss für sie sein, wenn sie hingehen und Blumen hinlegen.“

„Boston ist hart im Nehmen“

Bonanno dazu: „Wen etwas sehr Traumatisches passiert, können wir es nicht aus unserem Kopf kriegen. Aber das ist belehrend, denn wir müssen uns daran erinnern, was passiert ist und wieso es passiert ist.“ Der Trauma-Forscher ist überzeugt, dass der Marathon-Anschlag in Boston eine geringere Auswirkung auf die Amerikaner haben wird als 9/11. „Damals war jeder verängstigt, geschockt und verwirrt. Niemand hatte sich vorgestellt, dass so etwas passieren kann.“ Jetzt sei die Lage anders: „Boston ist hart im Nehmen. Das ist eine Arbeiter-Stadt, Teil des industriellen Nordens. Ich glaube nicht, dass die Menschen sich der Realität entziehen. Sie werden sich denken: Okay, das ist passiert, was sollen wir also nun machen, um es zu überstehen, und wie sollen wir uns anpassen?“

Bruce Riedel hat 30 Jahre lang für die CIA gearbeitet, war Sicherheitsberater für Südasien und den Mittleren Osten unter vier US-Präsidenten. Seit 2006 ist er Terrorismus- und Sicherheitsexperte im Washingtoner Brookings Institut für politische Analysen.

KURIER: Welche Rolle spielt die Herkunft der zwei Terrorverdächtigen?

Bruce Riedel: Ich vermute, dass es ihre Erfahrungen aus Tschetschenien sind, die sie radikalisiert haben. Die meisten Amerikaner würden sagen: Was haben wir mit Tschetschenien zu tun? Aber vom Standpunkt der El Kaida und der globalen dschihadistischen Propaganda sind die USA und Moskau beide Teil der globalen Konspiration gegen den Islam. In seiner jüngsten Audio-Botschaft sprach Ayman Zawahiri, nun Nummer eins der El Kaida, dass Washington, Tel Aviv und Moskau die drei größten Feinde des Islam seien. Das ist typisch für die Dschihad-Propaganda von El Kaida.

Zählen Sie die Männer zur El Kaida?

Nein. Die Tatsache, dass sie in Boston geblieben sind, deutet darauf hin, dass sie Einzelgänger sind. Ich erwarte, dass sich herausstellt, dass sie vom Internet beeinflusst wurden, und so glaubten, dass Amerika genauso wie Russland ihr Feind ist.

Wie einflussreich ist El Kaida in Tschetschenien?

El Kaida hat Tschetschenien seit Beginn unterstützt. Zawahiri war wahrscheinlich Mitte der 90er-Jahre selbst dort. Aus El Kaidas Perspektive ist der Kampf der Tschetschenen gegen Russland Teil des muslimischen Kampfs gegen die nicht-muslimische Welt. Aus Sicht der El Kaida waren die Tschetschenen von Zaren, Stalin, Putin unterdrückt. Sie können nicht behaupten, dass die USA daran teilnahmen, aber dass sie nie etwas dagegen unternommen haben. Boston hat den Preis für die Unterdrückung gezahlt. Das ist ein gutes Beispiel, wie dieses Problem ein globales geworden ist.

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