Ein Jahr Flüchtlingskrise: "Wir mussten vieles selber durchkämpfen"

SPÖ-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil
Die Flüchtlingskrise machte den Verteidigungsminister österreichweit bekannt. Im KURIER-Interview blickt er auf die dramatischen Wochen zurück.

KURIER: Herr Doskozil, das Flüchtlingsjahr 2015 startete mit der unwürdigen Quartiersuche im Mai und erreichte im September den Höhepunkt. Trotz des kontinuierlichen Anstiegs schienen die österreichischen Behörden nicht bestens darauf vorbereitet zu sein. Warum?

Hans Peter Doskozil: Die Zahlen haben sich kontinuierlich gesteigert. Im April hatten wir 200 Aufgriffe pro Tag im Burgenland und im Juli waren es bereits 400 täglich. Allerdings habe ich erst im Nachhinein erfahren, dass die Ungarn im ersten Halbjahr 2015 170.000 Übertritte an der serbisch-ungarischen Grenze verzeichnet hatten. Bei den Landespolizeidirektionen hatten wir darüber keinerlei Informationen. Ich hatte lange den Eindruck, man will den Sommer irgendwie durchtauchen, weil es im Winter ohnehin wieder weniger Flüchtlinge werden.

Haben Sie als burgenländischer Landespolizeidirektor nicht Alarm geschlagen?

Wir mussten vieles selber durchkämpfen. Etwa dass wir mit den Erstbefragungen nach Vordernberg in die Steiermark ausweichen können. Wir haben sogar einige burgenländische Beamte nach Vordernberg zugeteilt, damit die Erstbefragung in der Steiermark in Gang kommt. In Nickelsdorf organisierten wir die notwendigen Flächen für die Infrastruktur und den Umbau selbst. Das passierte in Eigeninitiative vor Ort.

Wie haben Sie die Tage rund um den 4. und 5. September erlebt?

Der nicht vorhandene Informationsfluss zwischen Ungarn und Österreich kostete Zeit. Ich war gegen 21 Uhr in Eisenstadt unterwegs, als mich ein Freund anrief. Er erzählte mir, dass der ungarische Livestream-TV-Sender M1 berichtet, dass die Flüchtlinge vom Bahnhof in Budapest in Bussen an die Grenze gebracht werden. Niemand wusste etwas davon – das Innenministerium nicht, auch die Verbindungsoffiziere nicht. Die Ungarn gaben erst beim zweiten Nachfragen zu, dass sie die Flüchtlinge zur Grenze bringen. Gegen 23 Uhr begann dann via Videokonferenz die Organisation.

Dass die Flüchtlinge ohne Registrierung durchgewunken wurden, war aufgrund des mangelnden Informationsflusses nicht möglich?

Ich bin mir selbst mit dem heutigen Wissensstand nicht sicher, was man machen würde, wenn 20.000 Menschen pro Tag vor der Grenze stehen.

Da argumentiert selbst Ihr Landeshauptmann Hans Niessl, dass am Flughafen täglich Tausende Menschen kontrolliert werden können ...

Am Flughafen hat man eine andere Infrastruktur und man ist auch mit einer anderen Situation konfrontiert. Die Reisenden nehmen die Kontrollen freiwillig in Kauf, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Wir hatten ja schon vor dem großen Flüchtlingsandrang Probleme, die Rückstellungen nach Ungarn durchzuführen. Im Juni und Juli war sogar die Einsatzeinheit der Polizei in Nickelsdorf vor Ort, um mitunter auch mit Körpereinsatz die Rückstellungen durchzuführen, weil sich die Menschen mit Händen und Füßen gewehrt haben. Jetzt muss man sich den Druck vorstellen, wenn bis zu 20.000 Flüchtlinge vor der Grenze stehen. In diesen Situationen muss man sich die Fragen stellen, wie weit geht man jetzt? Zum Vergleich: Was sich in Mazedonien an der Grenze abgespielt hat, bewegte sich in der Dimension von 15.000 Menschen. Was sich derzeit an der ungarisch-serbischen Grenze abspielt, bewegt sich in einer Dimension von 4000 Menschen. Die Lage ist damals deshalb nicht eskaliert, weil wir die Weiterreise der Flüchtlinge zugelassen haben.

Am 27. August wurden die 71 Toten in einem Lkw entdeckt. Sie waren damals mit der damaligen Innenministerin in Nickelsdorf. Haben Sie sich ein Bild vom Tatort gemacht?

Ich habe den Tatort nicht aufgesucht. Auch schon als Polizist in Wien habe ich solche Situationen vermieden. Für die Ermittler, die den Tatort so gut wie möglich abschotten wollen, ist jede zusätzliche Person nur hinderlich.

In Österreich haben die 71 Toten eine große Betroffenheit ausgelöst. Doch schon viele Monate zuvor und heute noch ertrinken Tausende Menschen im Mittelmeer. Warum gingen diese toten Flüchtlinge auf der Ostautobahn den Österreichern mehr ans Herz?

Weil es direkt vor der Haustür passierte und damit greifbar wurde. Bombenanschläge in Kabul oder sonstwo in der arabischen Welt schaffen es ja heute nicht einmal mehr in die Schlagzeilen, obwohl hier oft viel mehr Menschen als Opfer zu beklagen sind. Wir diskutieren seit vielen Monaten über eine Migrationssystematik und akzeptieren gleichzeitig, dass täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken. Selbst das Mittelmeer ist offenbar noch sehr weit weg für uns. Deswegen setze ich mich für Verfahrenszentren in Afrika ein. So hätten wir wenigstens die Möglichkeit, das Sterben im Mittelmeer zu stoppen.

Sie sind durch die Flüchtlingskrise österreichweit bekannt geworden. Letztendlich war das auch der Turbo für Ihren Karrieresprung zum Minister. Wie geht es Ihnen damit?

Damit habe ich kein Problem. Das ist im Leben nun einmal so. Was mir sicherlich zugute gekommen ist, war sicherlich auch die Tatsache, dass ich freie Hand bei den Entscheidungen hatte.

Hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit ihrem legendären Satz vom 31. August 2015 "Wir schaffen das" die Flüchtlingskrise angeheizt?

Ich glaube, dieser Satz ist ein Musterbeispiel dafür, wie politische Kommunikation schiefgehen kann. Ich denke, dass Angela Merkel andere Ziele im Hinterkopf hatte, als jene, die sie mit dem Satz dann tatsächlich ausgelöst hat. Hier gab es sicherlich rechtliche, wirtschaftliche und imagetechnische Überlegungen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon einige Übergriffe auf Asylheime. Merkel wollte zeigen, dass Deutschland nicht ausländerfeindlich ist.

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