Zwischen Solidarität und Rechtsbruch

Von Ungarn nach Österreich in Bussen. Von Wien nach Salzburg und München in Zügen der ÖBB
900.000 Flüchtlinge reisten 2015 durch Österreich. Ohne Registrierung, aber mit viel Unterstützung.

"Puuuuuh", sagt Theresa Billinger (23), als sie den Bahnsteig 1 am Wiener Westbahnhof betritt. Sie atmet tief ein, hält kurz die Hände vor ihr Gesicht und schüttelt den Kopf. "Es ist immer noch so arg, wieder hierher zu kommen." Billinger streicht sich über ihren Unterarm. Sie hat eine Gänsehaut bekommen. Genauso wie Cornelius Türk. "Ich kriege immer eine, auch wenn ich nur daran denke", sagt der 37-Jährige.

Als vor einem Jahr plötzlich über Nacht Tausende Flüchtlinge am Bahnsteig 1 des Wiener Westbahnhofs ankamen, wollte Theresa Billinger eigentlich "nur schnell zum Hofer gehen und ein paar Bananen, Wasser und Fladenbrot kaufen", erzählt die 23-Jährige. Als sie die Spenden dann aber zum Bahnhof brachte, stellte sie sich spontan in den Dienst der Wiener Caritas. Genauso wie der einstige Banker Cornelius Türk. Und genauso wie viele andere in Österreich, die in diesen Tagen die Flüchtlinge unterstützten.

Die Menschen brachten Bananen, Äpfel, Nüsse, Brot, Babynahrung, Kleidung, Stofftiere, Windeln für Babys, Binden für Frauen, Rasierer für Männer. So viel, dass das Spendenlager der Caritas im sogenannten "blauen Haus" hinter dem Einkaufszentrum des Bahnhofs binnen Stunden voll war. So voll, dass Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien, sogar zwischenzeitlich einen Spendenstopp verlautbaren musste.

Als die Flüchtlinge am Westbahnhof ankamen, völlig erschöpft und müde, die kleinen Kinder auf dem Arm, die größeren an der Hand, applaudierten die Menschen am Bahnhof. Sie jubelten ihnen zu, schenkten Tee und Kaffee aus. Und österreichische Kinder schenkten den Flüchtlingskindern ihre Spielsachen.

Es war der Zeitpunkt, an dem Caritas-Präsident Michael Landau erklärte: "Die Österreicherinnen und Österreicher schreiben in diesen Tagen Geschichte."

Auf der Durchreise

900.000 Flüchtlinge reisten damals durch Österreich. In Bussen waren sie aus Ungarn zum Westbahnhof gebracht worden. Dort wurden sie in Züge der ÖBB gesetzt und nach München und Salzburg gebracht. Denn das Ziel der meisten Flüchtlinge war nicht Österreich, sondern Deutschland.

Zwischen Solidarität und Rechtsbruch
Mehr als 10.000 Flüchtlinge passierten am 05.09.2015 auf dem Weg von Ungarn nach Deutschland den Wiener Westbahnhof. Hunderte freiwillige Helfer waren im Einsatz.
"Die ÖBB haben rascher überblickt, was da auf sie zukommt, als die Regierung und die Behörden", sagt Wolfgang Gratz. Der Kriminalsoziologe und Experte für öffentliche Verwaltung führte eine Studie zum Thema "Das Management der Flüchtlingskrise" durch. Von Oktober 2015 bis Jänner 2016 interviewte er 41 Personen aus dem öffentlichen Sektor, Vertreter von NGOs und der Zivilgesellschaft. In seinem 211 Seiten umfassenden Befund stellt der Soziologe der Regierung kein gutes Zeugnis aus. "Niemand in der Republik hat einen genauen Überblick gehabt", sagt Gratz.

Die Juristen im Innenministerium und im Bundeskanzleramt hätten sich "bemüht, eine rechtliche Grundlage zu finden, die deckt, was da passiert" – nämlich fremde Personen ohne jegliche Art der Registrierung nach Österreich ein- und später nach Deutschland weiterreisen zu lassen. Im Gespräch mit Gratz erzählten zuständige Beamte aus dem Burgenland, dass sie um eine Weisung aus dem Innenministerium baten, eine solche aber nicht bekamen und deshalb ein "ungutes Gefühl" wegen des Durchwinkens hatten. "Erst, als der damalige Kanzler Werner Faymann im Fernsehen gesagt hat, dass die Durchreise mit Angela Merkel abgestimmt war, hätten sich die Beamten erleichtert gefühlt." Gratz sagt auch, dass der enorme Andrang von Flüchtlingen im Vorjahr ohne den Einsatz der Zivilbevölkerung "viel chaotischer " verlaufen wäre. Behörden, Polizei und Freiwillige hätten damals "auf Augenhöhe" zusammengearbeitet.

"In der Stunde der Alternativlosigkeit hat man die Zivilbevölkerung ernst genommen", sagt Gratz. Mittlerweile sei das anders. Vorschläge von Menschen, die Flüchtlinge in Gemeinden betreuen, würden zum Teil nicht aufgenommen worden. "Stattdessen begann die Politik vom ‚Ende der Willkommenskultur‘ zu sprechen", sagt Gratz. Die gebe es nur bedingt: Denn noch immer betreuen etwa in den Gemeinden Hunderte Freiwillige die Geflüchteten.

KURIER-Dossier: Wie die Flüchtlingskrise Österreich veränderte

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