Viele offene Fragen nach Amokfahrt

Drei Menschen starben bei der Amokfahrt durch Graz. Die Ehefrau des mutmaßlichen Täters Alen R., Elena, schilderte, dass sie schon zuvor ein Martyrium durchleben musste
Ergebnis des Drogentests steht noch aus, Justiz sieht keine Verbindung zu Gewaltvorwürfen.

Seit der Amokfahrt durch die Grazer Innenstadt mit drei Todesopfern und Dutzenden Verletzten sind mittlerweile beinahe zwei Wochen vergangen. Alen R., der mutmaßliche Täter, sitzt in U-Haft. Über sein Motiv gibt es allerdings mehr Spekulationen als echte Fakten – auch, weil die Antworten der Behörden dürftig sind.

- Was hat zu der Amokfahrt geführt?

Das Motiv sei noch "im Unklaren", betont Christian Kroschl, Sprecher der Staatsanwaltschaft Graz. "Es ist ja nicht so, dass wir die Antworten nicht geben wollen. Aber Einschätzungen gebe ich nicht ab."

- Wie oft wurde Alen R. bisher einvernommen?

Das könne man nicht beziffern, sagt Kroschl, jedenfalls mehrmals: Von der Polizei, während des Pflichtverhörs, dann erneut vom zuständigen Staatsanwalt.

- Welche neuen Erkenntnisse gibt es daraus?

Die Justiz nennt keine. Nur soviel: Der 26-Jährige bleibe bei dem, was er bereits zu Beginn gesagt habe: Er werde verfolgt und habe in den Opfern diese Verfolger erkannt. Nach wie vor deute nichts auf einen extremistischen Hintergrund hin.

- Der Alkoholtest verlief negativ, wie sieht es mit Suchtgift oder Medikamenten aus?

Das Ergebnis des Drogentests steht auch nach elf Tagen noch aus. Die Gerichtsmedizin sei überlastet, begründet der Staatsanwalt.

- War die Amokfahrt länger geplant?

Auch hier geben sich die Behörden noch bedeckt. Es gäbe "keine Hinweise" darauf.

- Der Verdächtige besaß von Jänner bis Juli 2014 legal eine halbautomatische Waffe. Warum wurde sie ihm abgenommen?

Es gab vier Anzeigen gegen R., weil er mit dem Gewehr über einen Radweg hinweg in einen Acker gefeuert haben soll. R. lieferte auf Anordnung der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung Waffe und Munition ab. Er berief dagegen und legte das Gutachten eines Psychologen vor. Die Behörde blieb jedoch bei ihrer Entscheidung und gab R. die Waffenbesitzkarte nicht zurück. "Wegen der Umstände und seines Verhaltens gegenüber der Polizei", begründet Bezirkshauptmann Burkhard Thierrichter. So sei der Verdächtige aggressiv gewesen.

- Alen R. wurde am 28. Mai wegen des Verdachts häuslicher Gewalt an seiner Frau Elena weggewiesen. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Vorwurf und Amokfahrt?

"Eine Verknüpfung zu der Amokfahrt ist bisher nicht erkennbar", sagt Staatsanwalt Kroschl.

- Hätten Justiz oder Polizei nicht schon nach der Wegweisung mehr unternehmen müssen?

"Es ist ja nicht so, dass nichts passiert ist", beteuert Kroschl und zählt auf: Die Wegweisung war am 28. Mai, der Abschlussbericht der Polizei an die Staatsanwaltschaft kam am 13. Juni. Danach dauere es bis zu drei Tage, bis sie der zuständige Staatsanwalt erhalte. "Und am 20. war dann die Amokfahrt. In der Zwischenzeit wurden Erhebungsaufträge gegeben."

- Elena R. deutete an, sie habe ein Martyrium erlebt. Doch die Behörden hätten ihr nicht geholfen.

Wegen möglicher Gewaltdelikte schritt die Polizei zum ersten Mal am 28. Mai ein. Zuvor gab es nur einen Prozess wegen Beleidigung und das Verwaltungsverfahren wegen der Waffe. "Ich kann nur tätig werden, wenn ich etwas weiß", betont Bezirkshauptmann Thierrichter. "Mein erster Hinweis auf Gewalt kam am 28. Mai. Da ist die Maschinerie angelaufen." Elena und ihre Söhne wurden ins Frauenhaus gebracht.

Die steirischen Ermittler haben am Donnerstag ein Foto jener bisher unbekannten Frau veröffentlicht, die bei der Amokfahrt eines 26-Jährigen am 20. Juni in Graz getötet worden war. Bei zwei der drei Todesopfer war die Identität rasch klar, bei der jungen Frau, die ihr Leben in der Herrengasse vor der Bankfiliale ihr Leben verlor, traten die Kriminalisten bisher auf der Stelle.

Viele offene Fragen nach Amokfahrt
Amokfahrt, Herrengasse, 20. Juni, unbekanntes Opfer
Die Staatsanwaltschaft Graz leitet nun ein Bild der unbekannten Toten an die Medien zur Veröffentlichung weiter. Die Frau war 25 bis 45 Jahre alt und hatte braun-graue melierte Haare. Es konnte mit Ausnahme einer weißen Uhr der Marke "JR" keinerlei Schmuck vorgefunden werden. Ebenso wiesen die Ohrläppchen keine Löcher für Ohrringe auf.

Bekleidet war die rund 1,60 Meter große und etwa 50 bis 55 Kilogramm schwere Frau mit einer blauen Jeansjacke (Größe XL), schwarz-weiß gestreiftem Leibchen (Größe M), schwarzer Jeanshose (Größe 38), schwarzen Sneakers-Socken sowie dunklen Leinenschuhen der Größe 38 mit weißen Bändern.

Hinweise zur Identität der Toten sind erbeten an den Journaldienst des Landeskriminalamtes, Telefon: 059133/60 3333 oder per E-Mail an: lpd-st-lka-hinweise@polizei.gv.at.

Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) hatte bei der Trauerrede am Sonntag am Hauptplatz in Graz u.a. gesagt: "Ich trauere um die Opfer, um den getöteten Adis und um den getöteten Valentin. Und ich trauere auch um jene junge Frau, deren Lebensgeschichte ich nicht kenne, und die nicht einmal im Tod jemanden abgegangen zu sein scheint".

Bei der Amokfahrt am 20. Juni in der Grazer Innenstadt sind drei Menschen - darunter ein vierjähriger Bub - ums Leben gekommen. 36 Menschen wurden verletzt. Rund 50 weitere Fußgänger und Radfahrer werden als Opfer geführt, da sie gefährdet waren und sich zum Teil nur durch einen Sprung zur Seite vor dem dunkelgrünen Geländewagen des 26-jährigen Mannes, zuletzt wohnhaft in Graz-Umgebung, retten konnten.

Tag elf nach dem Amoklauf in Graz. Vieles geht wieder seinen gewohnten Gang. Aber viele Opfer haben noch offene Wunden. Und das kann sich so rasch nicht ändern.

Die Stadtführung hat Graz gut durch die Krise gebracht. Unaufgeregt, sachlich, mit helfenden Händen.

Ob auch die ermittelnden Behörden ein gutes Zeugnis verdienen?

Am Tag elf gibt es von ihnen keine Antworten zur wichtigsten Frage, was den Amokfahrer angetrieben hat. Er soll schon länger gewalttätig gewesen sein, sagt seine Frau. Das wird untersucht. Gut.

Eine Erklärung für die Wahnsinnsfahrt ist das nicht. Es wird Zeit, Fakten auf den Tisch zu legen. Oder sind den Ermittlern die Verschwörungstheorien in den sozialen Netzwerken entgangen?

Im Vorjahr gab es in Österreich 7587 Wegweisungen, 755 davon in der Steiermark. Alen R. wurde am 28. Mai weggewiesen – und tötete am 20. Juni drei Menschen.
„Damit Täter nicht zu tickenden Zeitbomben werden, müssen wir ihnen Hilfe zukommen lassen“, sagt ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Sie möchte schnell Lehren aus dem Grazer Amoklauf ziehen. Das bis dato freiwillige Angebot für Gewalttäter auf ein Rechtsgespräch mit Polizisten will die Ressortchefin alsbald verpflichtend im Sicherheitspolizeigesetz verankert wissen.

Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die seit 2008 im SPG festgelegte Meldepflicht von Hooligans und die dadurch erfolgte Gewaltprävention. Diese beginnt allerdings viel früher. Vor einer rechtlich relevanten Tat.
BewusstseinsbildungDoch was ist Gewalt überhaupt? Wie erkennt man gefährdete Kinder? Wie schützt man sie vor Übergriffen? Um Kindern, Eltern und Pädagogen Antworten auf diese Fragen zu geben, haben sich Familienministerin Sophie Karmasin, der Präsident des Kuratoriums „Sicheres Österreich“, Erwin Hameseder, und die Innenministerin zusammengetan. Unisono plädieren sie für mehr Bewusstseinsbildung quer durch alle Altersschichten – und überall. Sei es im Elternhaus, Kindergarten oder in der Schule.

Folder, Internet-Plattformen und ein Lehrgang für Gewaltprävention sollen beim Umgang helfen. Wie brisant das Thema ist, zeigen aktuelle Studien: Für 27 Prozent der Österreicher ist „die gesunde Watsche“ legitim, obwohl körperliche Züchtigung von Kindern seit 1989 gesetzlich verboten ist. „Über 50 Prozent halten Schreien als zulässiges Erziehungsmittel“, sagt Familienministerin Karmasin. „Wir müssen Aufmerksamkeit schaffen, dass auch psychische Gewalt eine Gewalt am Kind ist.“

www.digi4family.at

www.ifgk.at

www.kuratorium-sicheres-oesterreich.at

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