Der überforderte Kontinent

Viele Menschen aus Syrien flüchten nach Europa
Krieg, falsche Hoffnungen und die Planlosigkeit der EU führten zum großen Flüchtlings-Chaos.

Flüchtlinge überall – das ist der Eindruck, der im Spätsommer 2015 entsteht: Zehntausende Menschen bahnen sich ihren Weg nach Mitteleuropa. Auch ein Jahr später denken viele beim Wort "Flüchtlingskrise" vor allem an Frauen und Kinder, die mit Sack und Pack durch Österreich marschieren und mit Zügen und Bussen nach Deutschland weiterreisen.

Der Krieg in Syrien mit täglichen Gefechten, zerbombten Städten, Giftgas, Folter, Hunger und IS-Terror dauerte damals bereits über vier Jahre. Warum also machten sich erst im Sommer 2015 derart viele Menschen auf den Weg nach Europa?

Der überforderte Kontinent
A general view shows Al Zaatari refugee camp in the Jordanian city of Mafraq, near the border with Syria, March 7, 2016. Since the beginning of the Syrian crisis, 50-80 Syrian children have been born in the Zaatari refugee camp each week, according to the official website of UNHCR. REUTERS/Muhammad Hamed SEARCH "HAMED BORN" FOR THIS STORY. SEARCH "THE WIDER IMAGE" FOR ALL STORIES.
Kilian Kleinschmidt hat eine Antwort. Der 54-jährige Deutsche hat jahrelang für die UNO in Krisenregionen gearbeitet, das weltweit zweitgrößte Flüchtlingslager im jordanischen Zaatari geleitet und Österreichs Regierung beraten. "Seit 2014 hat es klar an humanitärer Hilfe in den Nachbarländern Syriens gefehlt, da die UNO-Mitglieder freiwillige Zahlungen reduziert haben", erläutert Kleinschmidt gegenüber dem KURIER. Die Grundversorgung der Flüchtlinge gerade außerhalb der großen Lager, für Menschen in privaten Unterkünften, konnte nicht aufrechterhalten werden.

Keine Perspektiven

Es fehlte an allem – wegen zahlreicher Beschränkungen für Flüchtlinge in den Gastländern auch an Jobs, Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten. Zudem verschärften der Libanon und Jordanien unter dem Druck von Millionen Flüchtlingen die Einreisebestimmungen für Syrer.

"Immer mehr Syrer begriffen, der Krieg wird noch lange dauern", nennt Kleinschmidt einen weiteren Grund für den Massen-Aufbruch. Viele hätten da ihr letztes Geld zusammengekratzt und ihre Heimat bzw. die Flüchtlingslager verlassen.

Der überforderte Kontinent
ABD0175_20151022 - TRAISKIRCHEN - ÖSTERREICH: ZU APA0513 VOM 22.10.2015 - UNHCR-Sonderbeauftragter und Berater der Bundesregierung in Flüchtlingsfragen, Kilian Kleinschmidt, am Donnerstag, 22. Oktober 2015, anlässlich eines Medientermins im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. - FOTO: APA/BMI/ALEXANDER TUMA - ++ WIR WEISEN AUSDRÜCKLICH DARAUF HIN, DASS EINE VERWENDUNG DES BILDES AUS MEDIEN- UND/ODER URHEBERRECHTLICHEN GRÜNDEN AUSSCHLIESSLICH IM ZUSAMMENHANG MIT DEM ANGEFÜHRTEN ZWECK UND REDAKTIONELL ERFOLGEN DARF - VOLLSTÄNDIGE COPYRIGHTNENNUNG VERPFLICHTEND ++
"Die Syrer haben die Welle ausgelöst und andere sind mitgeschwommen" – unterstützt von geschäftstüchtigen und oft skrupellosen Menschenschmugglern. Nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex kamen im Zuge der starken Migration entlang der Balkanroute im Vorjahr etwa ungewöhnlich viele Kosovaren in Mitteleuropa an – die allerdings in der Regel kein Asyl bekommen.

Ermutigt wurden die Flüchtenden durch das anfängliche Durchwinken Tausender Menschen durch Österreich sowie durch Angela Merkels Ankündigung Ende August, keine Flüchtlinge mehr in andere EU-Länder zurückzuschicken – sowie durch ihr entschlossenes "Wir schaffen das!" Als später erste Grenzen dichtgemacht wurden und sich Berichte über neue Grenzsperren verbreiteten, entschieden sich weitere Menschen in einer Art "Torschlusspanik" zur Flucht.

Der überforderte Kontinent
Als Zielland nannte ein Großteil der Menschen Deutschland und Österreich. Das "Wir schaffen das!" der deutschen Kanzlerin und weltweit geteilte Selfies von Asylwerbern mit "Mama Merkel" wurden als Einladung empfunden. "In Deutschland gibt es viele freie Arbeitsplätze und Lehrstellen. Da hat sich das Gerücht verbreitet: Wir bekommen dort sofort Jobs", erklärt Kleinschmidt, der derzeit mit der deutschen Regierung zusammenarbeitet.

Bedeutend war auch das Gefühl, dass hier alles sicher ist, sowie familiäre Beziehungen zum Land – was auch für Österreich galt. "In Bezug auf Frankreich oder Belgien etwa wussten die Flüchtlinge von den dortigen Problemen mit der Integration und von den Gettos."

Große Uneinigkeit

Trotz aller anfänglicher Empathie und dem Einsatz Tausender Freiwilliger war die EU überfordert – was jüngst auch der deutsche Justizminister Heiko Maas einräumte. Zu unterschiedlich waren die Standpunkte der Mitgliedsländer: Da gab es das massiv betroffene Griechenland, das Solidarität einforderte; anfangs mitfühlende Länder wie Deutschland und Österreich; abwartende Staaten wie Großbritannien sowie klar gegen Flüchtlinge auftretende Staaten im Osten, allen voran Ungarn.

Überraschend war die Flüchtlingskrise jedenfalls nicht gekommen. Obwohl die Lage in Nahost bekannt war, hatte die EU zugewartet. "Die Hilfsorganisationen hatten schon lange gesagt, dass da etwas auf uns zukommt, aber sie haben es nicht laut genug gesagt", so Kilian Kleinschmidt. Er sei überrascht gewesen, "wie schwach die Logistik innerhalb der EU war, um die Leute zu erfassen". Immerhin seien die Menschen, die gekommen seien, keine Massen im Vergleich zu den Millionen Syrern in Nahost und der Türkei. "Eine oder eineinhalb Millionen, das ist ja nix. Jeden Tag werden mehr Menschen auf europäischen Flughäfen abgefertigt."

„In dieser Form ist eine größere Welle nicht mehr zu erwarten“, meint Kilian Kleinschmidt im Einklang mit anderen Experten. Flüchtlinge haben inzwischen realistischere Informationen über Europa.

Ein wichtiger Faktor sind auch die Kosten einer Flucht: „Solange alles auf illegaler Migration beruht, geht es um viel Geld. Die Flucht ist noch viel teurer geworden, das können sich viele nicht mehr leisten“, so Kleinschmidt. Das sei auch ein Problem bei der Integration. „Durch ihre Schulden sind viele junge Flüchtlinge zum Beispiel nicht an einer Lehre interessiert, sie müssen schnell viel Geld verdienen.“

Armutsflüchtlinge

Man dürfe aber nicht nur an Kriegs- und Vertreibungsflüchtlinge denken, sondern auch an Armutsflüchtlinge, die etwa angesichts des Klimawandels immer mehr würden – derzeit aber keine Chance auf legalen Aufenthalt in Europa haben. „Man muss mehr in den Herkunftsländern tun, diese wirtschaftlich besser einbinden und auch Möglichkeiten legaler Migration schaffen.“ Dem müsse sich die UNO dringend annehmen.

Wäre Europa für einen neuen Flüchtlingsstrom gewappnet? „Es hat sich zwar etwas getan“, ist Kleinschmidt vorsichtig optimistisch. „Wir sollten aber trotzdem daran arbeiten, wie man mit Menschen human und logistisch besser umgehen kann.“

Mehr als 290.000 Menschen hat der Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 das Leben gekostet. Ein Überblick über die vergangenen fünf Jahre:

2011: Im Zuge des Arabischen Frühlings finden im März erste Demonstrationen gegen Machthaber Bashar al-Assad statt, dessen Familie das Land seit Jahrzehnten eisern regiert und sich daran schamlos bereichert. Die Polizei schießt auf Demonstranten, die zunächst nur Reformen wollen. Schon in den ersten Tagen werden mehr als 100 Menschen getötet. Schnell breiten sich die Unruhen aus, Assads Sturz wird gefordert.

2012: Im Juni einigen sich die UNO-Vetomächte sowie mehrere Nahost-Staaten auf einen ersten Fahrplan für einen Übergangsprozess in Syrien. Die Umsetzung scheitert.

2013: Im August sterben mehr als 1400 Menschen durch Chemiewaffen. Die USA machen das Assad-Regime verantwortlich, dieses dementiert.

2014: Im Jänner erobert der „Islamische Staat“ (IS) die syrische Stadt Rakka, die bis heute in seiner Hand ist und als seine Hauptstadt gilt. Der Siegeszug des IS beginnt, im Juni ruft die Miliz ein „Kalifat“ in weiten Teilen Syriens und des Irak aus. Die Kämpfer der Terrorgruppe ermorden, foltern, vergewaltigen und versklaven Zehntausende Menschen. Im September bombardieren die USA mit Verbündeten erstmals IS-Stellungen.

2015: Kurdische Kämpfer befreien Kobane vom IS. Es folgen weitere Niederlagen des IS, bevor er im Mai Palmyra erobert, blutige Massaker begeht und weltberühmte Altertümer zerstört. Im September starten Russlands Luftangriffe. Dabei werden offiziell nur IS-Stellungen attackiert, nach westlichen Angaben vor allem aber gemäßigte Rebellengruppen. In Wien wird ein neuer Anlauf zur politischen Lösung der Krise gestartet. Nach den Anschlägen in Paris bombardiert Frankreich den IS in Syrien. Insgesamt beteiligen sich schon rund 60 Staaten am Kampf gegen die Miliz.

2016: Im Jänner beginnen Friedensgespräche in Genf, die Ende August fortgesetzt werden sollen.

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