„Weniger Haft ist uns ein Anliegen“

Die U-Haftzahlen bei den Jugendlichen gehen in den vergangenen Monaten drastisch zurück
Jugendrichter Gerstberger über Alternativen und die Erwartungen an den neuen Justizminister.

Seit Ausbruch der Diskussion um den Jugendstrafvollzug nach der Vergewaltigung eines 14-Jährigen in der Zelle gehen die Haftzahlen rapide zurück. Der Sprecher der Jugendrichter, Norbert Gerstberger aus dem Landesgericht Wien, über die Gründe und die Palette an Sanktionen abseits der Haft.

„Weniger Haft ist uns ein Anliegen“

KURIER: Ein Senat unter Ihrem Vorsitz hat kürzlich einen 17-Jährigen mit verminderter Reife, der aus tristen Verhältnissen stammt, wegen Diebstählen zu 16 Monaten Haft verurteilt. Gab es keine Alternativen?

Norbert Gerstberger: Ich will Urteile in eigenen Fällen nicht kommentieren. Aber da war wegen Rückfalls eine unbedingte Freiheitsstrafe fällig. Er soll jetzt eine Zeit lang aus diesem Zusammenhang herausgerissen werden. In Gerersdorf (Jugendstrafanstalt, Anm.) kann man sich als Richter darauf verlassen, dass er eine Einzelzelle bekommt und dass es ein Programm gibt, in dem er etwas lernt und eine Umkehr stattfindet. Etwas Besseres ist uns noch nicht eingefallen.

Den Deutschen vielleicht schon. In einigen Städten in Bayern gibt es Teen-Courts, da urteilen Jurys aus Schülern über die Taten von Schülern. Und sie erteilen Weisungen, wie zum Beispiel eine Zeit lang auf das Handy zu verzichten. Wäre das nichts für uns?

Wenn es bessere Ideen gibt, sind wir Richter dabei. Aber die Fälle, die wir hier bekommen, sind überwiegend nicht für Schülergerichte geeignet. Es gibt zwar weniger Jugendkriminalität, aber dafür schwerwiegendere. Etwa Handy-Raubbanden mit Messern, die sind ein typisches Großstadtphänomen. Bei Weisungen sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Es ist aber eine Frage der Umsetzbarkeit und der Überprüfbarkeit. Ich kann keine Handyüberwachung anordnen, um eine Weisung zu kontrollieren, ob auf das Handy verzichtet wird. Theoretisch ist es im Jugendstrafrecht sogar möglich, bei Mord statt einer Freiheitsstrafe eine Weisung zu geben, in der Praxis kommt es nicht vor. Aber weniger Gefängnis ist uns allen ein Anliegen, da hoffen wir auf die Aufgeschlossenheit des neuen Ministers.

Können betreute Wohngruppen die Haft ersetzen?

Bei Schwerkriminalität reichen Wohngemeinschaften nicht aus. Bei kleinerer Drogenkriminalität oder Diebstählen kann ich es mir vorstellen. Als Ersatz für die U-Haft muss man sich aber die Überwachung über Nacht überlegen.

Die U-Haft-Zahlen bei Jugendlichen gehen seit der vor ein paar Monaten losgetretenen Diskussion zurück. Sperren die Richter weniger ein?

Einzelne Richter sind vielleicht sensibilisiert und bei der Verhängung der U-Haft vorsichtiger geworden, vor allem im Journaldienst am Abend oder Wochenende, wenn es sich um keine g’standenen Jugendrichter ohne spezielle Ausbildung handelt. Jedem Richter muss man zumuten, sorgsam mit der Freiheit umzugehen, aber die Suche nach Alternativen ist schwierig. Es wäre eine spannende wissenschaftliche Untersuchung, was Richter bewegt. Wir sitzen ja nicht im abgeschlossenen Turm.

Es ist ein neues Gefängnis in Wien mit Schwerpunkt Jugendliche geplant. Wie muss es ausschauen?

Vom neuen Gefängnis erwarten wir uns Einzelzellen für jeden, das ist der beste Schutz. Aber nur zum Schlafen, nicht das ganze Wochenende in Isolation. Animation im Gefängnis ist wichtiger als die Örtlichkeit. Der Geist vom (2003 gemeinsam mit dem Jugendgerichtshof geschlossenen, Anm.) Jugendgefängnis in Wien-Erdberg sollte wieder ein bisschen aufleben.

Lesen Sie morgen: Probesitzen im Gefängnis.

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Die Jugendhaft auf dem Prüfstand

Jugendhaft neu: Viel Kosmetik

Seit 1999 laufen in Deutschland Projekte nach dem Vorbild der „Teen Courts“ in den USA. Ein Senat aus drei Schülern erarbeitet bei leichten oder mittelschweren Straftaten (von Diebstahl über Sachbeschädigung und Drogenmissbrauch bis zur leichten Körperverletzung) gemeinsam mit dem jugendlichen Täter eine erzieherische Maßnahme. Wenn er diese erfüllt, stellt der Staatsanwalt das Verfahren ein.

Die ehrenamtlichen Mitglieder des Schülersenats werden von Trägervereinen der Jugendhilfe ausgebildet. Die Maßnahmen sollen einen Bezug zur Tat haben und die Fähigkeiten des Täters berücksichtigen. Das geht von Entschuldigung beim Opfer, gemeinnütziger Arbeit von maximal 20 Stunden, Teilnahme an einem Verkehrsunterricht bis zur Weisung, bestimmte Freizeitaktivitäten auszuprobieren. Kaufhäuser sind meist nicht bereit, Ladendiebe zur Wiedergutmachung bei sich arbeiten zu lassen.

In Bayern wurden bisher mehr als 2000 solcher Verfahren abgewickelt. In Baden-Württemberg werden auch strafunmündige Jugendliche, die etwas angestellt haben, einem Schüler-Gremium zugewiesen. Dieses konfrontiert sie mit dem Fehlverhalten und sucht nach Auswegen aus dem Fehlverhalten.

In Aschaffenburg hat man eine Schülerprojektgruppe und eine Gruppe klassisch sanktionierter jugendlicher Täter auf die Rückfallquote hin untersucht: Nach vier Jahren stehen 27 % aus der Projektgruppe 58 % aus der herkömmlich behandelten gegenüber.

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