Aus Langeweile zum Straftäter

Handschellen bei Jugendlichen, ein Bild, das öfters vorkommt.
Anzeigen steigen, Experten geben Entwarnung: "Anzeigen sagen nichts über Kriminalität aus".

Manuel H. (Name von der Redaktion geändert) sitzt in einem Beratungszimmer des Vereins Neustart. Nervös reibt der 18-Jährige seine Hände aneinander, schaut zu Boden, wirkt schüchtern. Mit leiser Stimme beginnt er von der Zeit zu erzählen, als "es passiert ist". Seither ist sein Leben nicht mehr so, wie es einmal war.

Mit 16 Jahren hat er gemeinsam mit einem Freund einen bewaffneten Raubüberfall verübt, dabei die Verkäuferin mit einer Gaspistole bedroht. "Uns war langweilig, und ich hatte davor etwas geraucht", erzählt er. Da der 18-Jährige wegen Diebstahls und Sachbeschädigung mehrmals vorbestraft war, wurde er zu 24 Monaten Haft verurteilt, davon acht Monate unbedingt. Nur weil er Haftaufschub bekommen hat, sitzt er heute hier. Dieser läuft im April aus. Dann wird Manuel H. voraussichtlich seine Haft antreten müssen. "Ich habe es verdient", meint er.

2162 Verurteilungen

Wie Manuel H. erging es im vergangenen Jahr 2162 Jugendlichen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden. Im Jahr 2009 waren es noch 3155. Der sinkenden Verurteilungsstatistik steht eine steigende Zahl von Anzeigen gegenüber. So wurden im Vorjahr in Österreich 33.939 Jugendliche bis 17 Jahren angezeigt. Allein in der Gruppe der 14- bis 17-Jährigen waren es 26.809 Anzeigen, um 2000 mehr als im Jahr davor.

Dass Kriminalität vor Kindern nicht Halt macht, zeigen die 819 Verdächtigten im Alter bis 9 Jahren. Davon hatten 283 zum Strafzeitpunkt keine österreichische Staatsbürgerschaft. Nähere Details über die jungen Täter habe man aber noch nicht, heißt es aus dem Bundeskriminalamt.

Dass Jugendliche heutzutage nicht krimineller sind, als vor einigen Jahren, weiß Walter Fuchs vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie. "Was möglicherweise in den vergangenen drei Jahrzehnten gestiegen ist, ist die Sensibilität. Vorfälle, die in den 1980er-Jahren als harmlose Raufereien behandelt wurden, sind heute Jugendgewalt", erklärt Fuchs. Kriminalstatistiken würden in erster Linie die Anzeigen-, Verfolgungs-, Registrierungs- und Sanktionierungspraktiken abbilden, die mit "wirklicher" Kriminalität aber nichts zu tun haben müssen.

Gestützt werden die Aussagen von Arno Pilgram, Univ.-Dozent am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, der sich mit der Kriminalitätsentwicklung bei Jugendlichen und der Aussagekraft von Kriminalstatistiken befasst. So habe es in der Vergangenheit immer wieder Phasen gegeben, in denen die Anzeigen zugenommen haben – Pilgram nennt als Beispiel die "Halbstarken-Bewegung" der 50er- und 60er-Jahre.

Defizite als Ursache

Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart in Wien, arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen. Er ist sich sicher: "Jugendliche sind nicht brutaler oder krimineller als früher. Es wird nur mit einer anderen Intensität berichtet, und die Anzeigenbereitschaft hat zugenommen."

Ein Problem sieht Tsekas in der Entwicklung von Jugendlichen. "Straffälligkeit weist immer auf ein Defizit hin. Es fehlt jungen Leuten an Struktur. Arbeitslosigkeit spielt eine große Rolle." Tsekas und sein Team versuchen, dem gegenzusteuern. "Wir erarbeiten mit ihnen eine Tagesstruktur."

Langeweile war auch das Motiv von Manuel H. Durch den Verein Neustart hat er trotz der Haftstrafe ein Ziel vor Augen: "Eine Ausbildung machen und einen Job finden. Das ist das Wichtigste."

Aus Langeweile zum Straftäter

"Ich bin der Günther", sagt Günther Kormesser, als er die Klasse betritt. Der Polizist ist einer von insgesamt 270 speziell ausgebildeten Präventionsbeamten, die österreichweit gegen Jugendgewalt an Schulen im Einsatz sind. Drei Fachgebiete stehen bei der Ausbildung zur Auswahl: Gewalt-, Sucht- und Eigentumsprävention. Dazu kommt ein Sensibilisierungsprogramm zum Thema Dschihadismus, das derzeit schon 69 Beamte absolviert haben.

In der 3b der Neuen Mittelschule Schopenhauerstraße in Wien-Währing steht heute das Thema Mobbing auf dem Programm. Zum Einstieg gibt es einen Film, dann folgen Gruppenarbeit und Diskussion. Die Schüler sind von Kormesser begeistert und scheuen sich nicht, Fragen zu stellen. "Es ist ein großer Unterschied, ob ein Polizist in Uniform oder ein Lehrer ihnen etwas über Kriminalität erzählt", sagt Direktorin Erika Tiefenbacher. "Er spricht die Sprache der Kinder, ist dennoch Respektsperson und kann eine ganz andere Vertrauensbasis aufbauen als ein Lehrer."

Insgesamt vier Präventionsprogramme werden angeboten. Die Inhalte beziehen sich auf Straftaten wie Vandalismus, Körperverletzung und neue Gewaltphänomene wie "Happy Slapping" (Mitfilmen und Posten von Gewalthandlungen). Im Jahr 2014 wurden die Projekte "All Right – alles was Recht ist!" (präventive Rechtsaufklärung, Eigentums- und Gewaltdelikte) und "Click & Check" (Umgang mit Internetkriminalität und Cybermobbing) umgesetzt. Die Schulen bestimmen selbst, welches Thema bearbeitet wird.

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