"Perchtoldsdorf hat uns beeindruckt"

Flüchtlingsnetzwerk Perchtoldsdorf: Integrationsgemeinde 2015
Gemeinde am Stadtrand Wiens wurde von Expertenjury zur "Integrationsgemeinde 2015" gekürt.

Um 10.30 Uhr ist längst nicht Schluss. Nach eineinhalb Stunden Deutschkurs springt im Perchtoldsdorfer Pfarrheim niemand auf und geht. Ein syrisches Ehepaar sitzt konzentriert über den Büchern, Burschen aus dem Irak machen sich bereit, um im Spendenlager zu helfen. Eine Gruppe junger Frauen interessiert sich für einen Ausflug nach Wien.

"Der Deutschkurs ist auch sozialer Dreh- und Angelpunkt", erklärt Inge Schedler. Sie hatte die Idee, aus der das "Flüchtlingsnetzwerk Perchtoldsdorf" wuchs. 65 Menschen betreut es heute – hochprofessionell. Wie beim Kurs, wo etwa pensionierte Deutschlehrer und Studenten mit den Flüchtlingen in leistungsgerechten Kleingruppen lernen. Teilweise im Betreuungsverhältnis 1:1.

Bürger-Engagement

Das war nur einer der Gründe, warum die nö. Gemeinde von einer fünfköpfigen Experten-Jury zu Österreichs vorbildlichster Integrationsgemeinde gewählt wurde.

Im Juni und Juli stellte der KURIER laufend Gemeinden vor, die sich durch besonderes Engagement bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen hervorgetan haben. In einem Online-Voting nominierten die KURIER-Leser unter allen vorgestellten Gemeinden fünf für die Jury-Abstimmung: Perchtoldsdorf in NÖ mit 2638 Klicks, Schwanenstadt in OÖ mit 2567 Klicks, Gols im Burgenland (2243), Litschau in NÖ (2012) und Eben am Achensee in Tirol mit 1414 Klicks.

Wie bei den Lesern konnte sich das Flüchtlingsnetzwerk Perchtoldsdorf auch bei der Jury – Michael Landau (Direktor der Caritas), Gerald Schöpfer (Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes), Martin Schenk (stellvertretender Direktor der Diakonie), Martina Salomon (stellvertretende KURIER-Chefredakteurin) und Irmgard Griss (ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes und Jury-Vorsitzende) durchsetzen.

"Perchtoldsdorf hat uns beeindruckt", sagt Irmgard Griss. Den Experten imponierte vor allem, dass das Engagement in Perchtoldsdorf direkt von den Bürgern ausging und nicht von der Politik darum gebeten wurde.

Mit Flyern in der Kirche machte Inge Schedler schon um Weihnachten auf ihre Idee aufmerksam. "Ich wollte die Zeit der offenen Herzen nutzen", meint sie. Statt der erwarteten 20 Gäste beim ersten Informationsaustausch Anfang Jänner kamen 120. Im Februar wurden dann die ersten zwei syrischen Familien in Privatunterkünften aufgenommen. Mittlerweile wurden 13 Wohneinheiten organisiert.

Das Netzwerk verknüpft über 50 Unterstützer. Die Aktivitäten sind vielfältig: Neben den Deutschkursen von Montag bis Freitag und Unterstützung bei Behördengängen, wurde Menschen mit positivem Asylbescheid auch Arbeit beschafft – etwa beim Wirtschaftshof, als Schülerlotsen oder Küchenhilfen. Für Kinder gibt es Schwimmkurse, Mal-Akademien und eine Lernbetreuung.

"Wenn man den Zahlen aus der Zeitung ein Gesicht gibt, legen die Leute Vorurteile und Ängste ab", meint Schedler. In regelmäßigen Treffen werden auch Probleme offen angesprochen. Letztlich, so Schedler, werde damit das Miteinander in der Stadt gestärkt. "Für mich ist es mittlerweile ein Fulltime-Job."

Professionell

Besonders beeindruckt hat die Jury auch die Professionalität, mit der die Freiwilligen ihre Hilfe anbieten sagt Schedler. Auch dass die Initiative mittlerweile zum Vorbild für andere Gemeinden geworden ist, wurde honoriert. Auf Drängen des Flüchtlingsnetzwerkes lud Bürgermeister Martin Schuster seine Kollegen aus der Region nach Perchtoldsdorf ein. Die Folge: Im Herbst werden in mehreren Gemeinden im Bezirk Mödling Treffen wie jenes stattfinden, mit dem das Flüchtlingsnetzwerk Perchtoldsdorf im Jänner durchstartete. Schedler und Co. wollen dabei mit ihren Erfahrungen zur Seite stehen.

Einfach war die Entscheidungsfindung für die Jury dennoch nicht. "Jede Gemeinde hat auf ihre Weise überzeugt", sagt Caritas-Präsident Michael Landau.

Eben in Tirol, weil es für alle Flüchtlinge Beschäftigungsmöglichkeiten gefunden hat. Schwanenstadt, weil die Schutzsuchenden nicht irgendwo am Stadtrand, sondern direkt am Hauptplatz untergebracht wurden. Gols, weil die Bewohner des Flüchtlingsheimes dort im Seniorenheim mithelfen. Und Litschau, weil es ein Ort ist, der mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat, es aber trotzdem schafft, sich für Flüchtlinge zu engagieren. "Am überzeugendsten war trotzdem Perchtoldsdorf", sagt Griss.

Gerald Schöpf, Präsident Rotes Kreuz

„Es gibt es in Österreich zahlreiche Gemeinden, in denen es gelungen ist, Flüchtlingen eine neue Heimat zu geben. Eine von ihnen ist die Gemeinde Perchtoldsdorf. Dort wurden Flüchtlinge mit offenen Herzen empfangen. Die freiwilligen Helfer haben gezeigt, wie wichtig einzelne Personen beim Gelingen von Integration sind.“

Michael Landau, Caritas-Präsident

"Die Entscheidung war alles andere als einfach. Alle nominierten Gemeinden punkteten in unterschiedlichen Kriterien. Am Ende war Perchtoldsdorf am überzeugendsten. Die Initiative hat klein angefangen. Heute ist ein ganzer Ort engagiert. Diese Solidarität strahlt über die Gemeinde hinaus und zeigt anderen Orten, wie Integration gelebt werden kann."

Irmgard Griess, Jury-Vorsitzende

"Das, was Perchtoldsdorf geschafft hat, geht nur, wenn Menschen von sich aus aktiv werden. In Perchtoldsdorf haben sich Leute gefunden, die Wohnungen beschafft, Deutschunterricht organisiert, Flüchtlingen eine Beschäftigung gegeben haben. Wenn jede Gemeinde in Österreich so ihren Beitrag leistet, haben wir kein Problem mit der Unterbringung von Flüchtlingen."

Martin Schenk, Diakonie

"Mein Favorit war Litschau. Eine Gemeinde, die es mit Arbeitslosigkeit nicht so leicht hat und trotzdem so viel Engagement bei der Integration von Schutzsuchenden zeigt. Perchtoldsdorf hat mir imponiert, weil die Deutschkurse professionell sind: Deutschlehrer und Studenten der Germanistik, die die Kurse sogar in zwei bedarfsgerechten Gruppen abhalten."

Martina Salomon, KURIER

"In Perchtoldsdorf kam das Engagement von unten, von den Bürgern. Das gefällt mir. Der Bürgermeister hat das aufgenommen. Gut fand ich die Vernetzung mit den Bezirksbürgermeistern. Beeindruckt hat mich aber auch Litschau. Dort wurde ein eigener Stadtrat für hilfsbedürftige Menschen und deren Integration geschaffen."

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