Graz trauert heute tausendfach

Wo der Wagen durch die Innenstadt raste und Menschen traf, brennen seither Tausende Kerzen.
Bis zu 20.000 Menschen bei Gedenkmarsch. Stadtchef Nagl im Interview über den Zusammenhalt.

Wenn du das als Bürgermeister erleben musst, was da in deiner Stadt passiert da zerreißt’s dich", sagt Siegfried Nagl.

Der Grazer Bürgermeister wurde nicht nur psychisch durch die Amokfahrt in der Fußgängerzone verletzt. Er wäre beinahe selbst physisch Opfer des mutmaßlichen Täters Alen R. geworden, der als Kind nach dem Bosnienkrieg nach Österreich kam. Drei Menschen starben vor einer Woche: Adis Dolic, der vierjährige Valentin sowie eine unbekannte Frau.

Ihnen und den 36 zum Teil schwer verletzten weiteren Opfern ist ein Gedenkmarsch heute Nachmittag in Graz gewidmet, der jede bisher dagewesene Dimension sprengt: 20.000 Menschen werden erwartet, unter ihnen Bundespräsident Heinz Fischer, Bundeskanzler Werner Faymann sowie die gesamte Landesregierung und höchste Vertreter der Glaubensgemeinschaften. Der Gedenkmarsch ist der Abschluss der offiziellen Trauerwoche in Graz.

„Ein Abschluss für die urbane Trauer“

Aus Katastrophen in Galtür, Kaprun oder jüngst dem Absturz der German Wings-Maschine mit jeweils rund 150 Todesopfern wissen Psychologen: Auch Menschen, die nicht direkt betroffen sind, reagieren mit Trauer, Angst oder Wut.

Noch schlimmer wird das, je besser man das Umfeld der Katastrophe kennt.„Nehmen Sie die Grazer Innenstadt, viele kennen sie“, beschreibt Psychologe Roland Bugram. „Das gibt es automatisch eine Identifikation.“

Rituale wie ein Gedenkmarsch könnten ein Ventil sein, um mit der Belastung umzugehen. „Als Abschluss für die urbane Trauer.“

KURIER: Welche Botschaft soll mit dem Gedenkmarsch vermittelt werden?

Siegfried Nagl: Es sind zwei Dinge. Es soll erstens ein Ritual geben, wie ein Begräbnis, wenn jemand stirbt. Und zweitens sind wir jetzt alle sehr sensibilisiert, dass es eine große, gesellschaftliche Verletzlichkeit gibt. Solche Wahnsinnstaten wirst du nicht verhindern können, einen Einzeltäter nicht, vielleicht auch nicht eine Gruppierung. Aber wir wollen jetzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und sagen, wir lassen uns von einer Wahnsinnstat nicht auseinander dividieren.

In Internetforen, aber auch von Medienseite her gibt es Verschwörungstheorien bis hin zum Terrorakt, obwohl die Polizei keine Hinweise darauf hat. Was können Sie als Bürgermeister darauf entgegnen?

Graz trauert heute tausendfach
Kondolenzbuch am 22.06.2015
Allen, die die Gesellschaft spalten wollen, kann ich nur sagen: Dieses Auseinanderdividieren ist nicht die Antwort. Unmenschlichkeit kann man nur durch Mitmenschlichkeit wiedergutmachen. Es ist eine Wut da, aber aus dieser Wut darf man nicht die falschen Schlüsse ziehen. Und ich würde mir generell wünschen, dass wir alle wieder mehr auf unsere Sprache achten, die wird immer roher.

Gibt es eine Lehre, die man als Politiker aus dem 20. Juni ziehen kann?

Es sind nach dem Jugoslawienkrieg sehr viele traumatisierte Menschen zu uns gekommen und aufgenommen worden, die nun bei uns leben. Es wäre gut, wenn wir unter Umständen schauen, ob sie Kriegstraumata haben, damit dann nicht so etwas explosionsartig zum Ausbruch kommt. Darauf müssen wir einfach achten.

Was stellen Sie sich konkret vor?

Ich weiß noch nicht, wie man das angehen kann, da muss man vielleicht mit der Bundesseite und den Ländern etwas überlegen. Aber man sollte professionell verfolgen: Was passiert mit diesen traumatisierten Menschen über die Jahre? Sind da tickende Zeitbomben da? Gehen die hoch? Kriegen sie Hilfe? Es ist wichtig, überhaupt genauer hinzuschauen auf das, was rund um uns passiert. Wenn wir bemerken, dass einer aus der Reihe fallen könnte, dass es da vielleicht häusliche Gewalt gibt, dann muss man reagieren.

Haben Sie einen Rat für andere Städte?

Man muss den Zusammenhalt im urbanen Raum festigen, so wie wir das in der Menschenrechtsstadt Graz machen. Das geht mit interreligiösen Beiräten oder Siedlungsbeiräten. 155 Nationen leben bei uns friedlich, das dürfen wir uns wegen eines Einzeltäters nicht nehmen lassen.

Szenarien wie die Amokfahrt durch eine Fußgängerzone dürften kaum in Krisenübungen durchspielbar sein. War Graz auf so eine Situation vorbereitet?

Wir haben für vieles Pläne. Aber du kannst das nicht für alles haben. Ich habe aber gesehen, es gibt den gesellschaftlichen Zusammenhalt: In der Sekunde hat jeder gewusst, er muss helfen. Ich hab’ eine solche Hilfswelle wie jetzt nie erlebt.

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