Die Jugendhaft auf dem Prüfstand

Haftanstalt Gerasdorf
Jugendzimmer statt Zelle: Was Experten der Justiz im Umgang mit Jugendlichen raten.

Markus riss der Frau die Tasche von der Schulter und lief. Er blickte nicht zurück, sah nicht, wie die Frau stürzte und sich verletzte.

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand
Markus, damals 16, entwickelte sich zum Problem-Jugendlichen: Er stahl, brach ein, und raubte eine Handtasche mit 160 Euro Bargeld darin. Seine alleinerziehende Mutter und Lehrer waren überfordert. Nach seiner Festnahme sagte er: „Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe.“

Wie soll eine Gesellschaft mit Jugendlichen wie Markus umgehen? Der gesellschaftliche Konsens lautete bisher – wegsperren. Doch diese Einsicht bröckelt seit dem Vorjahr. Ein 14-Jähriger wurde in U-Haft von einem Mithäftling vergewaltigt. Später stellte sich heraus, dass das Opfer geistig unreif ist. Weitere Fälle wurden publik: Seit 2010 wurden in der Justizanstalt Josefstadt 54 körperliche Übergriffe angezeigt.

Haft nur im Extremfall

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand
APA13669268-2 - 12072013 - WIEN - ÖSTERREICH: ZU APA-TEXT CI - BM Beatrix Karl (l.) im Rahmen einer Sitzung mit Leitern sämtlicher Justizanstalten zum Jugendstrafvollzug am Freitag, 12. Juli 2013, in Wien. APA-FOTO: ROBERT JAEGER
In einer ersten Reaktion bediente die Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) ein gängiges Klischee:„Strafvollzug ist kein Paradies“, sagte sie. Ihre zweite Reaktion war nachhaltiger: Sie rief eine Taskforce ins Leben. Der Experten-Bericht liegt nun am Tisch des neuen JustizministersWolfgang Brandstetter. Er werde die Vorschläge prüfen, heißt es in seinem Büro.

Das Ziel der Taskforce lässt sich mit einem Satz zusammenfassen: „Womöglich soll die Haft vermieden, sonst verkürzt, nur im Extremfall vollzogen werden.“

Das Phänomen Jugendkriminalität ist zwar komplex, allerdings sinken die Fallzahlen kontinuierlich. Im Jahr 2012 wurden 26.549 Jugendliche angezeigt. Rund ein Zehntel davon wurde verurteilt. Zur Jahrtausendwende gab es weniger Anzeigen, dafür mehr Verurteilungen (siehe Grafik). Im selben Jahr machten 463 Jugendliche Bekanntschaft mit dem Häf’n. Qualitativ haben sich die Fälle gewandelt: Die Taten sind schwerwiegender.

Natürlich ist es gut, sich mit den Opfern zu beschäftigen. Täter wie Markus haben diese Lobby nicht. Das ist zwar nachvollziehbar, aber die Konsequenz ist fatal: Denn wer sie ignoriert, riskiert damit, weitere Opfer zu produzieren.

Bisher gab es nur zwei Extreme: Entweder die Jugendlichen wurden sich selbst überlassen – oder eingesperrt. Durch den Bericht geistert nun ein Mittelweg namens betreute Wohngruppen. Eine Alternative für alle jene, die nicht schwer kriminell oder gefährlich sind.

Konsequenz statt Strafe

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand
APA16447660 - 14012014 - WAIDHOFEN AN DER YBBS - ÖSTERREICH: Bundesminister fuer Justiz Wolfgang Brandstetter (ÖVP) vor Beginn einer 2-tägigen Regierungsklausur am Dienstag, 14. Jänner 2014 in Waidhofen an der Ybbs... APA-FOTO: HANS PUNZ
Wäre Markus in eine solche eingezogen, hätte er einen Betreuer gehabt, der ihn unterstützt, über sich und sein Leben nachzudenken. Er hätte Therapien gehabt, und einen geregelten Alltag. „Das Wohnen in Wohngruppen“, sagt Stefan Turri von den SOS-Kinderdörfern, sei „bereits eine Therapie. Jugendliche brauchen keine Strafe, sondern Konsequenz.“

Doch selbst das Lager der Befürworter solcher Alternativen ist gespalten. In der Justiz hätte man zwar gerne Wohngruppen, allerdings mit Arrest-Zeiten, etwa nachts. Soziale Trägervereine lehnen das ab, haben derzeit aber auch nicht das rechtliche Portfolio für solche Maßnahmen.

Eine Schlüsselfigur bleibt der Richter, der eine Weisung für eine Wohngruppe erteilen muss. Nicht alle Richter haben die nötige Expertise: Zwar sind Jugendrichter bestens mit der Materie vertraut. Doch im Journal-Dienstrad sind sie nicht immer vertreten. Dennoch: Der Vergewaltigungsfall hat die Justiz sensibilisiert. Mit 44 U-Häftlingen und 144 Häftlingen erreichten die Belagszahlen Anfang Oktober des Vorjahres einen Tiefstand.

Hilfe gibt es nur in Wien

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand
APA1143185-2 - 13082009 - WIEN - ÖSTERREICH: THEMENBILD - Eine Ansicht der Statue der "Justitia" im Jusstizpalast in Wien. Aufgenommen bei der feierliche Wiedereröffnung des Justizpalast am Freitag, 13. Juli 2007 (Archivbild). APA-FOTO: HERBERT PFARRHOFER
Für Markus hätte es ganz anders laufen können: Wäre er in Wien straffällig geworden, hätte sich sofort nach seiner Inhaftierung die Jugendgerichtshilfe eingeschaltet. Doch diese gibt es nur für den Sprengel Wien. Sie hätte seinen Fall besprochen, Alternativen zur Haft gesucht und dies dem Haftrichter vorgelegt. Doch da der 16-Jährige nicht in Wien einsaß, bekam er auch keine Hilfe. Die Taskforce fordert den Ausbau der Einrichtung.

Markus fasste dreieinhalb Monate Haft aus. Er schaute drei Monate lang in U-Haft fern, saß dann noch zwei Wochen in Strafhaft. Obwohl ihn danach ein Bewährungshelfer unterstützte, fand er keine Lehrstelle. Die Begründung – er sei vorbestraft. Markus arbeitete zwei Jahre schwarz am Bau. Einem Mechanikermeister imponierte sein Fleiß. Er gab ihm eine Lehrstelle. Wenn er nachhause komme, falle er müde ins Bett, erzählt Markus. „Und so ein Blödsinn wie damals passiert mir nicht mehr.“

Lesen Sie morgen: Lokalaugenschein im Jugendhäf’n.

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand

Marios (Name geändert) letzter Coup machte nicht einmal Schlagzeilen: Er stieg mit vier Freunden in ein Geschäft ein, packte dort Parfum ein und ließ sich dann von einem Taxi vom Tatort abholen.

Er trägt eine schwarze Lederjacke, eine Goldkette über seinem weißen T-Shirt, und er redet. Wer ihm zuhört, hört nicht nur spätpubertäre Prahlerei, sondern auch Verzweiflung. Sein Fall zeigt, wie zahnlos juristische Mittel sein können, wenn sich niemand mit dem Täter und sich der Täter nicht mit seiner Tat intensiv auseinandersetzt.

Für den Einbruch fasste er 120 Stunden Sozialhilfe aus. In einem Obdachlosenheim wusch er Teller ab, schälte Kartoffeln. „Lachhaft“, sagt er. Der Häf’n, den er nie zu Gesicht bekam, hätte ihn nicht abgeschreckt. Mario: „Mich hätte es nur gestört, wenn ich meine Mutter und meinen Bruder daheim lasse.“ Für sie wäre auch der Gutteil des Verkaufserlöses der Beute bestimmt gewesen.

Keine Aufarbeitung

„Miete, Strom. Bei uns schaut es finanziell nicht sehr gut aus.“ Gerichtsverhandlung, die Arbeit im Altenheim – das war es. Er sprach nie mit jemandem über seine Tat, versteht bis heute nicht, was Unrecht daran sein soll. „Wenn mir niemand hilft, dann nehme ich mir das, was mir zusteht.“ Immerhin sei „alles versichert gewesen“.

Schon einmal war er im Visier der Justiz: Es ging um eine Rauferei. „Hurenkind“ hatte ihn sein Kontrahent, ein Polizeischüler, geschimpft. Mario trat zu, zertrümmerte den Knöchel des anderen und damit dessen Polizeikarriere. Die Konsequenz: kein Anti-Gewalt-Training, keine Therapiesitzung, sondern Tatausgleich, 9000 Euro Schmerzensgeld.

Wie soll ein 16-Jähriger aus einer sozial benachteiligten Familie so viel Geld auftreiben? Mario verkaufte Cannabis. „Die beste Qualität.“

Nachhaltig war das nicht. „Natürlich tut mir das leid“, sagt er. Doch in einer ähnlichen Situation würde er wieder so reagieren.

Warum er wieder zum Mittel der Gewalt greifen würde, das hat ihn bis heute niemand gefragt.

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