"Den Täter zu sehen, ist scheiße"

"Den Täter zu sehen, ist scheiße"
Vergewaltigungsopfer Jaqueline Mäser über ihr jahrelanges Martyrium mit ihrem Stiefvater.

Ein Missbrauchsopfer bricht sein Schweigen. Jaqueline Mäser, 25, spricht über die neun Jahre, in denen sie, wie berichtet, von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden ist. Einen Selbstmordversuch hat die Vorarlbergerin überlebt. Ihr Peiniger wurde verurteilt und ist dennoch auf freiem Fuß.

KURIER: Ihr Stiefvater Kurt N. ist verurteilt worden, weil er Sie neun Jahre lang missbraucht hat. Sie kritisieren, dass er trotzdem auf freiem Fuß ist.

Jaqueline Mäser: Er ist am 20. März 2014 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Jetzt hat er ein Gutachten eingereicht, dass er wegen seiner Erkrankung haftunfähig ist. Das ist derzeit noch in Prüfung. Allerdings hat er keinerlei Auflagen bezüglich Aufenthaltsort oder sonstigen Näherungen mir gegenüber.

Er könnte Ihnen jederzeit über den Weg laufen.

Genau. Er kann auch jederzeit ins Schwimmbad gehen, wo Kinder schwimmen... Jeder Arbeitslose hat mehr Einschränkungen. Er hat da gar nichts. Im Prinzip könnte er sich einen schönen Urlaub auf den Malediven gönnen ohne irgendwelche Einschränkungen.

Er hat weder eine Fußfessel, noch sitzt er im Gefängnis.

Bei Fußfesseln gibt es ein Problem. Dort ist die Auflage seit letztem Jahr, dass ein Sexualstraftäter mindestens die Hälfte der Haftstrafe abgesessen haben muss, ehe er das Recht hat, die Fußfessel zu bekommen. Das Gesetz sieht leider nichts vor, wenn er haftunfähig sein sollte. Der Staat Österreich sagt also: Lieber haftunfähig und gar keine Konsequenzen, als die Fußfessel vor Hälfte der Strafe. Man kann gar nicht so krank sein, dass man keine Fußfessel haben kann. So schwer krank ist er nicht und zwei Füße hat er auch noch.

In welchem Alter wurden Sie von ihm missbraucht?

Im Alter von sieben bis 16.

Haben Sie als kleines Kind Scham empfunden?

Nein. Ich bin von ihm so darauf hinerzogen worden. Er hat sich langsam herangetastet und gesagt, das sei ganz normal, was der Papa macht. Im Kindesalter glaubt man, was die Eltern sagen.

Ihrer Mutter haben Sie sich nie anvertraut?

Anfangs bin ich nicht auf die Idee gekommen, weil es für mich normal war. Als ich angefangen habe, ihm zu sagen, dass ich es nicht machen möchte, ist mir von ihm gedroht worden, dass er mich ins Kinderheim steckt. Ich habe damals geglaubt, dass das wirklich passieren würde.

Weil Sie sich als Außenseiterin in der Familie gesehen haben.

Weil ich ein uneheliches Kind bin und zwei Halbgeschwister habe, die die Kinder von meinem Stiefvater und meiner Mutter sind.

Das Martyrium hat sich, wie man den Akten entnehmen kann, immer mehr gesteigert.

Ja.

Sie sind dann zu einem Psychiater in Behandlung gekommen.

Das war mit 16, 17.

Später waren Sie längere Zeit stationär auf der Psychiatrie?

Mit siebzehneinhalb bin ich dann ins Landeskrankenhaus Rankweil zur Psychiatrie eingewiesen worden. Dann war ich mit kleinen Unterbrechungen zwei Jahre dort. Dann war ich noch drei Jahre in Berufsunfähigkeitspension, bis Ende 2012.

In der Psychiatrie haben Sie erstmals von den Vergewaltigungen erzählen können?

Anfangs hab ich gar nicht darüber geredet, aber da hat der Arzt schon einen Verdacht gehabt. Dann habe ich immer wieder Flashbacks bekommen, wo man abdriftet und immer wieder in dem damaligen Geschehen ist. Da habe ich auch angefangen, langsam darüber zu reden. Ganz im Detail habe ich aber erst mit der Kripo darüber gesprochen.

Sie machten einen Selbstmordversuch?

Das war in der Psychiatrie, mit Schlafmitteln, Schmerzmitteln und Alkohol. Ich bin zehn Tage ins Koma gefallen, aber ich habe überlebt.

Dann hat die Aufarbeitung begonnen?

Ja, Ende 2008 fasste ich den Entschluss, dass ich zur Kripo gehe und alles erzähle. Die fünfstündige Einvernahme war Anfang 2009. Dann gab es auch eine kontradiktorische Einvernahme am Landesgericht Feldkirch im Jahr 2011, die hat fast neun Stunden gedauert, an einem einzigen Tag. Wirklich schonend für ein Opfer...

Dort sahen Sie auch Ihren Stiefvater wieder.

Der N. und ich waren zur gleichen Zeit geladen. Wir sind uns schon vor der Türe begegnet. Dann waren wir in getrennten Räumen, aber die waren nebeneinander und ich habe jedes gesprochene Wort vom Täter gehört. In der Pause sind wir auch gleichzeitig rausgekommen. Da ist er auf einem Bänkle gesessen und hat hergewinkt. Das war schlecht geregelt.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Ihrem Vergewaltiger erneut gegenüberstanden?

Den Täter nochmal zu sehen, ist scheiße. Da hab ich mir gedacht: Krankenhaus, ich komme wieder. Das ist ein herber Rückschlag, so einen Tag zu erleben.

Sie behaupten, es habe auch einen zweiten Täter gegeben.

Ja, ein Freund von N. Die sind rund um meinen 16. Geburtstag zu zweit über mich hergefallen. Aber der Zweite ist aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Mittlerweile ist er verstorben.

N. ist verurteilt worden.

Am 6.6. 2013 ist er schuldig gesprochen worden. Er hat berufen, das war ja zu erwarten. Heuer hat das Oberlandesgericht ihn auch schuldig gesprochen.

Was würden Sie rückblickend an den Einvernahmen und Gerichtsverfahren ändern?

Ich würde mir wünschen, dass es ein leichterer Weg wird, dass mehr auf Opferschutz als auf Täterschutz wert gelegt wird. Dass es nicht ganz so lange dauert. Und vor allem, dass das mit der Fußfessel neu geregelt wird. Da drückt sich der Staat vor seiner Verantwortung.

Am Dienstag im KURIER: Der Stiefvater hält sich für ein Justizopfer; die Mutter will neun Jahre nichts bemerkt haben.

Die 25-jährige Jaqueline Mäser aus Dornbirn hat ein Martyrium hinter sich. Vom siebenten Lebensjahr an wurde sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Neun Jahre lang. Erst als sie im Alter von 16 einen Psychiater konsultieren musste, hörten die Übergriffe auf. Kurt N., der Stiefvater, wurde 2013 vom Landesgericht Feldkirch (Aktenzahl: GZ 41 Hv 15/11p-66) zu siebeneinhalb Jahren Haft und zur Zahlung von 20.000 Euro Schmerzengeld verurteilt. Das Oberlandesgericht Innsbruck bestätigte den Schuldspruch am 21. März 2014 (Aktenzahl: 6 Bs 55/14k). Das Urteil liegt dem KURIER vor.

Trotz Verurteilung befindet sich der Täter nach wie vor auf freiem Fuß. Der Mann, der seine Tochter neun Jahre lang aufs Übelste missbraucht hat, sitzt nicht etwa in den Anstalten Stein oder der Karlau hinter Gittern. Auch Fußfessel hat er keine. "Er kann sich frei bewegen", sagt Jaqueline Mäser. "Er kann mir jederzeit über den Weg laufen, denn es gibt nicht einmal ein Annäherungsverbot."

Haftaufschub

Der Grund, warum der verurteilte Kinderschänder nach wie vor seine Freiheit genießt, liegt mehr als zwei Monate zurück. "Herr N. hat am 16. Mai 2014 einen Antrag auf Haftaufschub gestellt", bestätigt Norbert Stütler vom Landesgericht Feldkirch. Dieser müsse nun geprüft werden. "So lange nicht darüber entschieden ist, bleibt er auf freiem Fuß", erklärt der Richter. "Sein Antrag auf ein Gutachten verzögert die ursprüngliche Frist, mit der er zum Haftantritt aufgefordert worden ist."

Derzeit erstellt Gerichtspsychiater Reinhard Haller ein Gutachten über den Gesundheitszustand von Kurt N., der nach eigenen Angaben an einem schweren Nervenleiden (Dystonie) laboriert.

Der Auszug der Kurt N. zur Last gelegten Taten liest sich wie das Drehbuch eines abartigen pornografischen Machwerks. Verurteilt wurde er unter anderem wegen Vergewaltigung, schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, Unzucht mit Unmündigen, Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses und sittlicher Gefährdung von Personen unter 16 Jahren.

"Herangetastet"

Ohne auf nähere Details einzugehen, schildert Jaqueline Mäser im KURIER- Gespräch den jahrelangen Leidensweg. "Der sexuelle Missbrauch hat im Alter von sieben Jahren begonnen", sagt sie. "Er hat sich langsam herangetastet."

Mit Streicheln und intimen Berührungen habe es begonnen. Der Stiefvater habe gesagt, dass dies zwischen Töchtern und Vätern ganz normal sei. Geschämt habe sie sich damals nicht, sagt die heute 25-Jährige. "Ich bin nicht auf die Idee gekommen, weil es für mich normal war."

Angst um die Familie

Doch es blieb nicht bei den Berührungen. Der Täter steigerte die sexuellen Übergriffen an dem kleinen Mädchen sukzessive bis hin zu Vergewaltigungen in allen Ausformungen – über Jahre hinweg. Ob sie sich gewehrt habe? "Als ich angefangen habe, ihm zu sagen, dass ich es nicht machen möchte, ist mir von ihm gedroht worden, dass er mich ins Kinderheim steckt." Sie hatte Angst, ihre Familie – die Mutter und zwei Halbgeschwister – zu verlieren und schwieg weiter.

Im Teenager-Alter wurde Jaqueline Mäser verhaltensauffällig. Sie kam zum Psychiater, dann in die stationäre Psychiatrie, wo sie nach einem Selbstmordversuch zehn Tage lang im Koma lag. Dann begann ein neues Leben. Sie erzählte vom sexuellen Missbrauch durch Kurt N. – erst dem Arzt, dann der Kripo und schließlich auch vor Gericht.

Rund fünf Jahre dauerte der Instanzenweg, ehe ihr Stiefvater für schuldig befunden wurde. Er lebt nach wie vor bei seiner neuen Lebensgefährtin in Vorarlberg.

Justizskandal

Seine Stieftochter spricht von einem Justizskandal. Sie habe Angst, dass er ihr nochmal begegne oder ihr gar etwas antun könnte. "Über den Weg gelaufen ist er mir zum Glück nicht direkt, wenn ich ihn aus der Ferne sah, habe ich gleich die Richtung geändert." Einige Male sei er mit dem Auto an ihr vorbeigefahren. "Wobei ich nicht verstehe, dass er den Führerschein noch hat, wenn er doch angeblich so krank ist, dass er haftuntauglich sein soll." Mäsers Anwältin, Lieselotte Muccido-Madler: "Es ist furchtbar, wie in Österreich mit zweierlei Maß gemessen wird." Der Täter könne sich frei bewegen. "Bei so einem schlimmen Verbrechen ist das ein Wahnsinn. Den Stiefvater macht man zum armen, kranken Mann und auf den psychischen Zustand des Opfers wird keine Rücksicht genommen."

Keine Wiederholungsgefahr?

Das Gericht sieht, wie Strafrechtsexperte Helmut Fuchs vermutet, offenbar keine Tatbegehungs- oder Wiederholungsgefahr. Möglicherweise, weil die letzte Tat bereits neun Jahre zurückliegt. "Was die Haftunfähigkeit betrifft, muss geklärt werden, ob es möglich ist, eine Person in diesem Zustand in Haft unterzubringen", sagt Fuchs. Für erkrankte, besonders gefährliche Täter gäbe es die Möglichkeit einer Ersatzhaft, "etwa in einer Krankenanstalt".

Kurt N. lebt derzeit wieder mit einer Frau und deren Kindern zusammen. Der Sohn der neuen Lebensgefährtin soll 12, die Tochter 14 Jahre alt sein. Der Halbbruder von Jaqueline Mäser lebt bei ihrer Mutter, die Halbschwester seit geraumer Zeit in einer betreuten Wohngemeinschaft.

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