Der unwürdige Streit um Flüchtlinge

130.000 Kurden stürmten allein am Wochenende die Grenzen zur Türkei. Nach Österreich kommen täglich 170. Unterkünfte gibt es für sie noch immer keine.

Die Lage rund um die nach Österreich strömenden Flüchtlinge – etwa 170 pro Tag – spitzt sich weiter zu. Denn das Aufnahmezentrum Traiskirchen platzt mit 1600 Beherbergten bereits aus allen Nähten, und sieben Bundesländer sind weiterhin bei den Asylwerber-Aufnahmen säumig (siehe Grafik).
Der große Wurf, die Neuankömmlinge in Österreich unterzubringen, ist weiterhin nicht in Sicht. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner bemühte sich am Montag um einen Kontakt zu Verteidigungsminister Gerald Klug. Wie berichtet, will sie jetzt Asylwerber in Kasernen des Bundesheeres unterbringen. Klug, der sich in der SPÖ-Klausur befand, richtete der Innenministerin via Medien aus, die Martinekkaserne in NÖ zur Verfügung zu stellen. Montagabend telefonierten dann Kabinettsmitglieder. Die Gespräche werden heute, Dienstag, im Ministerrat fortgesetzt.

Für das Innenministerium stellt das erste Angebot keine nachhaltige Lösung dar. Die Martinekkaserne befindet sich keine fünf Kilometer von Traiskirchen entfernt. Dort revoltiert seit Wochen der SPÖ-Bürgermeister, weil sich im Erstaufnahmezentrum zu viele Flüchtlinge befinden.

Der unwürdige Streit um Flüchtlinge

Reportage aus Erbil

KURIER-Reporter Stefan Schocher war unterwegs im Krisengebiet Nordirak. Seine Reportage '"Das Dorf war mein ganzes Leben": Auf der Flucht vor den Terrormilizen des IS.' lesen Sie hier.

Die Innenministerin hat auch einen ganz anderen Standort im Auge – die Hiller-Kaserne in Linz-Ebelsberg. Nachdem es auch dort Widerstände gibt, will das Innenressort mit einem rechtlichen Trick zu den Quartieren kommen. Durch einen sogenannten Kasernen-Assistenzeinsatz des Bundesheeres würde das Druckmittel der Bürgermeister, dass die Flächenwidmung der Areale zu ändern sind, wegfallen. Ob Klug dem zustimmen wird, ließ sein Sprecher offen. Neben Linz ist auch die Turba-Kaserne in Pinkafeld ein Thema. Die könnte aber demnächst verkauft werden. Gegen den Plan ist auch Burgenlands Landeshauptmann Hans Nissel, der 2015 eine Landtagswahl zu schlagen hat.

Protest vor Ministerium

Anstatt einer Lösung einen Schritt näher zu kommen, wurde am Montag politisch heftig gestritten. Traiskirchens Bürgermeister, Andreas Babler (SP), attackierte Mikl-Leitner: „Die Bevölkerung hat es satt, unter der politischen Unfähigkeit des Innenministeriums leiden zu müssen.“ Er kündigte einen Protest vor dem Innenministerium an.

Niederösterreichs ÖVP-Manager Gerhard Karner griff dagegen den Verteidigungsminister an: „Zwei Kilometer von Traiskirchen entfernt eine Kaserne für Flüchtlinge zu öffnen, ist menschenunwürdig gegenüber Asylwerbern und der Bevölkerung, die seit Jahrzehnten die Hauptlast trägt.“

Die Grüne Menschenrechtssprecherin Alev Korun hegte Zweifel an der Problemstellung: „Wegen 170 Asylanträgen täglich tut unsere Innenministerin so, als wäre eine unbewältigbare Katastrophe ausgebrochen. Eine Unterbringung in Kasernen kann nur die Ultima Ratio sein.“

Die Zahlen zeigen, dass sich die Lage verschärft. Befanden sich zu Jahresbeginn 22.000 Asylwerber in der Grundversorgung, waren es am Montag 26.324. Experten rechnen zum Jahresende mit bis zu 29.000 beherbergten Flüchtlingen.

Zeltstädte

Parallel zur Kasernen-Debatte, wird auch die Unterbringung der Asylwerber in Zeltlagern diskutiert. Für den Generalsekretär des Roten Kreuzes, Werner Kerschbaum, ein „indiskutabler Vorschlag: „Ich bin traurig, dass darüber überhaupt diskutiert wird.“ Kerschbaum bestätigte, dass das Innenministerium angefragt habe, ob das Rote Kreuz Zelte zur Verfügung stellen könnte. Die laufende Diskussion hält er für „nicht würdig“. Als reiches Land habe Österreich eine „humanitäre Tradition.“
Die Zahl der Aufgriffe steigt weiter: Am Montag nahm die Polizei in Villach 14 Menschen aus Somalia und Nigeria in einem aus Italien kommenden Zug fest. Sie hatten keine Dokumente oder wiesen sich mit gefälschten Pässen aus.

Der unwürdige Streit um Flüchtlinge

Mit 22.000 Flüchtlingen hatte das Innenministerium heuer gerechnet. Bis Jahresende könnten es bis zu 7000 mehr sein, die untergebracht werden müssen. Seit Wochen herrscht nun Alarmstimmung in der Politik. Die einen fordern eine "Aktion scharf" auf den Transitrouten ins Land; die anderen, dass das Heer wieder zur Grenzsicherung ausrückt.

Wirklich dramatisch ist die Lage in Syrien und im Irak, wo täglich Zehntausende vor den marodierenden Horden der IS flüchten. Am Wochenende hat die Türkei ihre Grenze zum Irak für über hunderttausend Flüchtlinge geöffnet. Der kleine Libanon (mit halb so vielen Einwohnern wie wir) beherbergt 1 Million syrische Flüchtlinge.

Statt ängstlichem Alarmismus wäre selbstbewusste Rückschau angebracht: Während des Jugoslawienkriegs in den 90ern suchten über Monate täglich 500 Flüchtlinge allein in Wien um Asyl an. Als russische Panzer 1956 den Aufstand gegen die kommunistische Gewaltherrschaft in Ungarn niederwalzten, hat Österreich mehr als 150.000 Menschen aufgenommen. Heute sind es ein paar Tausend Verzweifelte, die zusätzlich einen sicheren Hafen suchen.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat ihren x-ten Hilferuf für neue Flüchtlingsquartiere drastisch so formuliert: "Täglich erreichen uns Bilder von Terror und Verfolgung und von Menschen, die genau davor fliehen und bei uns Schutz suchen. Die öffentlichen Diskussionen dazu sind schon bisher unwürdig genug. Aber jetzt stehen wir vor einem neuen traurigen Tiefpunkt." An Ländern, Gemeinden und am Heeresminister (der mehrere Kasernen für Flüchtlinge öffnen sollte und könnte) ist dieser Appell bisher weitgehend abgeprallt. Es ist bald überfällig, dass Werner Faymann und Reinhold Mitterlehner die beschämende Causa zur Chefsache und diesem unwürdigen Streit um wehrlose Flüchtlinge ein Ende machen.

„141 sind es jetzt“, sagt Bürgermeister Reinhard Reisinger,SPÖ, und glaubt, dass das „Haus am Semmering“ bald voll sein dürfte: Das Innenministerium hat das 250-Betten-Hotel angemietet, um Asylwerber unterzubringen.

Weil das aber ohne Einverständnis der steirischen Gemeinde Spital am Semmering oder des Landes passierte, gehen die Wogen hoch. Reisinger bearbeitet die Meldezettel der Flüchtlinge nicht, Montagabend kommen rund 400 Bewohner zu einer Bürgerversammlung. Die Stimmung ist angespannt. „Meine Tochter ist zwölf. Die muss jeden Tag um sechs in der Früh bei der Bushaltestelle stehen“, schildert ein Mann. „Aber da stehen jetzt 30 Fremde herum und sie traut sich nicht mehr allein in die Schule.“

Der Bürgermeister pflichtet bei. „Das ist Tatsache.“ Das Ministerium müsse sofort den Vertrag mit der Hoteleignerin auflösen. „300 bis 400 Asylwerber sind bei uns nicht vertretbar.“ Schon wird überlegt, die Semmeringschnellstraße mit einer Gemeinderatssitzung unter freiem Himmel zu blockieren.
Vom Ministerium ist niemand da, Manfred Komericky, von der Landespolizeidirektion bekommt den Ärger der Bürger ab. „Das sind Menschen aus Ländern, in denen sie Gräueltäten erlebt haben“, betont Komericky. „Diese Menschen brauchen Schutz und Hilfe . . .“ Viel mehr braucht es nicht, die Stimmung kippt: „Wir brauchen sie trotzdem nicht da!“, ruft ein Mann. Eine Frau fragt: „Und was ist mit unseren Kindern?“ Die Polizei werde die Beamten aufstocken, verspricht Komericky. Der Polizeiposten Spital wurde allerdings geschlossen.

Keine Verbrecher

SPÖ-Vizelandeshauptmann Siegfried Schrittwieser mahnt, es gehe um Kriegsflüchtlinge. „Das sind ja keine Verbrecher.Ich werden nicht zulassen, dass Flüchtlinge unter einer Brücke schlafen müssen. Aber was hier passiert ist, ist nicht in Ordnung. Das ist Gettobildung. Das hab’ ich der Ministerin auch gesagt.“ Die Stimmen werden aggressiver. Schimpfwörter werden gerufen. Schrittwieser schüttelt den Kopf. „Leuteln, wenn wir so primitiv sind, dann können wir mit der Diskussion aufhören.“
Immer wieder kommen Wortmeldungen, dass nur Männer im Hotel im Ortsteil Steinhaus Quartier bezogen hätten. „Und die haben alle ein Handy“, mokiert sich eine Bewohnerin. „Da kommen keine Familien.“ Die Männer hätten „nichts zu tun, vor dem fürchten wir uns“. Bürgermeister Reisinger zählt auf: Es seien derzeit 23 Frauen mit acht Kindern da sowie 110 Männer aus 16 Nationen.

Montag trifft auch ein Brief der Ministerin Johanna Mikl-Leitner in der aufmüpfigen Gemeinde ein. Darin verteidigt sie die Maßnahme, das Hotel einzusetzen. „Um Menschen, die alles verloren haben, ein Dach über den Kopf zu geben.“ Sonst würden Flüchtlinge „als Obdachlose auf der Straße stehen . Das lasse ich nicht zu.“
Einen Seitenhieb auf das Land teilte Mikl-Leitner ebenfalls aus. „Es liegt durchaus in der eigenen Hand der Steiermark, Flüchtlinge im ganzen Land in kleinen Einheiten zu verteilen. Es wird nur schlichtweg nicht in ausreichendem Maße getan.“ Schrittwieser kontert: Die Steiermark erfülle die Quote zu 90 Prozent und liege damit hinter Wien, Niederösterreich und Burgenland auf dem vierten Platz.

Im ersten Quartal 2014 haben rund 108.300 Flüchtlinge in einem der 28 EU-Staaten um Asyl angesucht. Davon meldete sich der Löwenanteil - nämlich 36.890 oder gut ein Drittel - in Deutschland, wie die Statistikbehörde Eurostat berichtet. Damit steht Deutschland EU-weit an der Spitze. Platz zwei belegt Frankreich mit 15.885, gefolgt von Schweden mit 12.945 und Italien mit 10.700 Antragstellern.

Für Österreich liegen dazu bei Eurostat als einziges Mitgliedsland keine Zahlen vor. Die offizielle Statistik des Innenministeriums kommt auf 1.261 Asylanträge im Jänner 2014, 1.135 im Februar und 1.214 im März. Rechnet man diese drei Zahlen zusammen kommt man für das erste Quartal 2014 auf 3.610 Asylanträge in Österreich. Im Vorjahreszeitraum waren es 3.951, was eine Steigerung von 0,5 Prozent bedeutet.

Aussagekräftiger ist aus Sicht vieler Experten ohnehin, die Asylwerberzahlen ins Verhältnis zur Größe der Bevölkerung zu setzen. Den höchsten Flüchtlingsanteil hat laut Eurostat aktuell Schweden. Hier wurden von Jänner bis März 1.355 Bewerber pro eine Million Einwohner gezählt. Deutlich dahinter rangieren Luxemburg (500), Malta (475), Deutschland (460) sowie Belgien (455) und Zypern (445). Noch viel geringer ist die Quote etwa in Portugal (5) sowie in der Slowakei und Estland (jeweils 15). Italien, wo zuletzt Massen an Bootsflüchtlingen angelandet sind, liegt dabei mit 180 Asylbewerbern pro eine Million Einwohner nur im Mittelfeld.

Nimmt man einfach mangels Eurostat-Zahlen für Österreich die Einwohnerzahl Österreichs von 8.507.786 her (Statistik Austria, Stand Jahresanfang 2014) her und rechnet sie mit den 3.610 Asylanträgen des ersten Quartals hoch, käme man auf gerundete 424 Asylwerber pro Einwohner Österreichs. Inwieweit diese Zahl mit den obigen Angaben für andere EU-Staaten von Eurostat vergleichbar ist, muss offen bleiben.

Die krassen Unterschiede erklären sich vor allem daraus, dass es in Europa derzeit kein Verteilsystem nach festen Schlüsseln gibt. In der EU gilt die Regel des Dublin-Abkommens, dass jenes Land für einen Asylwerber zuständig ist, in dem dieser zuerst europäischen Boden betritt.

Diskutiert werden daher seit langem feste Kontingente innerhalb der EU. Dabei könnte aus Sicht von Experten nicht nur die Bevölkerungsgröße als Kriterium zählen, sondern auch die Wirtschaftskraft, die Fläche oder die Arbeitslosenquote berücksichtigt werden.

Derzeit drängen viele Flüchtlinge, die über die Mittelmeer-Route in Spanien, Italien und Griechenland ankommen, nach Norden. Ein Grund ist die oft beklagenswert schlechte Unterbringung der Menschen in den Mittelmeerstaaten sowie die lange Dauer der meisten Verfahren.

Aus Sicht des Migrationsforschers Dietrich Thränhardt ist von großer Bedeutung auch der Vergleich, "wie viele Flüchtlinge ein Staat endgültig aufnimmt, wie er sie behandelt und wie viel Elend er dabei mildert". In dieser Hinsicht hatten 2012 Schweden, die Schweiz, Belgien und Österreich die Nase vorn. Deutschland rangiert dabei im Mittelfeld, mit größerem Abstand folgen die großen EU-Staaten Frankreich, Italien und Großbritannien. Thränhardts Fazit: Innerhalb der EU könne man nur Schweden eine aktive Flüchtlingsaufnahmepolitik bescheinigen.

Auch in Bad Gastein, Salzburg, dürfte es demnächst eine Bürgerversammlung geben: Bürgermeister Gerhard Steinbauer lehnt den Plan des Landes, 40 Asylwerber in der Jugendherberge unterzubringen, ab. „Der Anteil an Asylwerbern gemessen an der Wohnbevölkerung beträgt bereits jetzt das Fünffache des Landesschnittes“, begründet er in einem Schreiben an Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) den er auffordert „ein klares Machtwort“ zu sprechen. Der Brief ging auch an die Bevölkerung.

Anders als in Spital am Semmering sollen die Flüchtlinge in Bad Gastein auf Wunsch der zuständigen Landesrätin Martina Berthold (Grüne) in dem Gästehaus untergebracht werden, vorübergehend für zehn Wochen. Aus ihrem Büro heißt es, man sei abhängig von privaten Quartiergebern. Angesichts des Drucks wären „Zelte und Turnsäle die Alternative“ für die Unterbringung der Flüchtlinge. Steinbauer verweist indes auf eine alte Abmachung mit dem Land. Das habe vor einigen Jahren versichert, dass Bad Gastein keine weiteren Asylwerber zugeteilt würden.

Kommentare