„Dann kommt die medizinische Keule“

Eltern loben die Waldschule, die ein Wissenschafter als menschenrechtswidrig klassifiziert.
Ein ehemaliger Diplompfleger spricht von Medikamenten-Missbrauch in einer Behinderten-Schule.

Eine schmale Straße schlängelt sich durch den Föhrenwald bei Wiener Neustadt. Zweieinhalb Kilometer abseits der „Neunkirchner Allee“, mitten im Wald, wird unvermittelt ein moderner Gebäudekomplex sichtbar. An der Spitze des v-förmigen Baus ist der Eingang; darüber in riesigen Lettern der Schriftzug „Unseren Kindern“. Es herrscht Stille vor der Waldschule.

Stille

Auch in der Sonderschule des Landes Niederösterreich ist es still. Kein Kind ist zu sehen. „Sonst geht es hier lebhafter zu, aber unsere Kinder sind alle beim Aschenkreuzfest im Festsaal“, sagt Schuldirektorin Astrid Leeb. 107 Kinder zwischen sechs und 16 Jahren mit schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen werden hier unterrichtet. „Ziel ist es, jeden einzelnen an den höchstmöglichen Grad eines selbstbestimmten Lebens heranzuführen“, erklärt Hans Zuba, Direktor des an die Sonderschule angeschlossenen Internats. Was das heißt? „Manche Kinder können sich nicht artikulieren. Ein Ziel ist es dann, dass sie anderen klar ein ,Ja‘ oder ,Nein‘ zu verstehen geben können.“

Ein Rundgang durch die vermeintlich menschenleere Schule zeigt Klassen, die auf die Bedürfnisse der mehrfach behinderten Kinder zugeschnitten sind. Sogar über ein beheiztes Hallenbad für Unterwassertherapien verfügt die Waldschule.

Wegsperren

Das Bild, dass sich dem Besucher bietet, lässt keine Zweifel über die Vorbildwirkung dieser Einrichtung für die schwächsten Glieder der Gesellschaft aufkommen. Doch es gibt andere Bilder. Bilder, die Philipp S. (Namen von der Redaktion geändert) skizziert. Der Diplompfleger berichtet über mangelnde Betreuung, Medikamenten-Missbrauch und Wegsperren der Behinderten, die im Internat untergebracht sind.

Zwei Jahre hat Philipp S. in der Waldschule gearbeitet, ehe er im Sommer 2013 entnervt das Handtuch wirft. Statt sich um die hilfsbedürftigen Kinder zu kümmern und sich mit ihnen zu beschäftigen, habe das Pflegepersonal die Nachmittage meist im Aufenthaltsraum bei „Kaffee und Kuchen“ verbracht.

Armschienen

„Ein autistischer Bub wusste sich nur über Einkoten auszudrücken. Den ließen sie den ganzen Tag über herumlaufen, bis die Hose von selbst getrocknet war. Wenn ich Dienst hatte, habe ich das nicht erlaubt und ihn von Zivildienern wickeln lassen“, erzählt S. im KURIER-Gespräch. Ein anderer Teenager habe starre Armschienen verpasst bekommen,da er sich ständig die Hand in den Mund steckte. Einem weiteren Burschen habe man Plastikrohre über die Arme gesteckt, da dieser häufig masturbierte.„Täglich werden Kinder in die Gitterbetten eingesperrt“, sagt S. „Die Betten sind aus massivem Holz, da kommen die Kinder nicht raus.“

Tag für Tag wäre es zudem zu noch härteren Bandagen gekommen. S. berichtet über eine Rollstuhlfahrerin mit Schluckbeschwerden, die sich gegen die täglich notwendig Medikamenteneinnahme zur Wehr setzte. „Dann haben sie sie im Rollstuhl festgehalten, den Kopf nach hinten gedrückt, bis sie die Arznei geschluckt hat.“

„Wenn sich ein Kind nicht beruhigt, dann kommt die medizinische Keule. Da geben dann Kollegen statt der ärztlich verordneten eineinhalb Tabletten Risperdal drei Stück, oder sie verabreichen Ritalin.“ Diese rezeptpflichtigen Medikamente werden üblicherweise gegen Hyperaktivität und Aggression verschrieben, deren Dosierung strikt einzuhalten ist.

"Anschuldigungen unwahr"

Auf die schwerwiegenden Vorwürfe des ehemaligen Mitarbeiters angesprochen, reagiert Internatsleiter Hans Zuba im KURIER-Gespräch. „Sämtliche Anschuldigungen sind unwahr! Wir halten uns natürlich strikt an die Medikation, die die Hausärzte und Neurologen unseren Kinder verschreiben.“ Krankenschwestern und Pfleger hätten gar keine Möglichkeit, die Dosis zu erhöhen, da nur die ärztlich verordnete Menge an Medikamenten pro Schüler vorrätig sei.

Philipp S. berichtet aus seiner Zeit als Pfleger im Internat der Waldschule anderes. „Jeder hat Zugriff zum Medikamentenschrank. Wenn noch zwei Packungen Risperdal vorhanden sind, wird schon nachbestellt. Damit sind immer mehr Medikamente da als verordnet wurden.“ Illegaler Weise werde auch zusätzliches Ritalin verabreicht, das einfach als „zu Boden gefallen“ und „anschließend entsorgt“ vermerkt werde.

Warum Philipp S. während seiner Dienstzeit in der Waldschule niemals mit den Anschuldigungen an den Internatsleiter herantrat, ist diesem unverständlich. Zuba: „Ich wäre diesen Vorhalten selbstverständlich nachgegangen, obwohl ich mir sicher bin, dass sie jeglicher Grundlage entbehren.“

Das Land reagiert

Das Land Niederösterreich als Schulträger reagiert auf die Anschuldigungen gegenüber dem KURIER ähnlich. Josef Staar, Leiter der Abteilung Schulen: „Mir sind die Vorwürfe theoretisch wie praktisch nicht nachvollziehbar, es hat diesbezüglich auch niemals eine Beschwerde seitens der Eltern gegeben. Wir würden derartigen Hinweisen natürlich sofort nachgehen.“ Bei regelmäßigen Kontrollen des Schulbetriebes sei zudem diesbezüglich nie etwas zu beanstanden gewesen.

Philipp S. befindet sich seit seiner Kündigung in psychologischer Betreuung. Die Existenz der von ihm beschriebenen Gitterbetten streitet Internatsleiter Zuba übrigens auch ab. In einem dem KURIER zugespielten Video (siehe unten), sind die mannshoch vergitterten Betten jedoch deutlich zu erkennen.

Warum der renommierte Erziehungswissenschafter Volker Schönwiese die Schließung der Waldschule fordert, lesen Sie morgen im KURIER.

An der niederösterreichischen Landessonderschule im Föhrenwald bei Wr. Neustadt werden derzeit 107 körper- und geistig schwerstbehinderte Kinder von sechs bis 16 Jahren von 55 Lehrern und 28 Erziehern betreut. Vier der 20 Internatsschüler leben das ganze Jahr über in der „Waldschule“. Diese diente 1919 als Heilstätte für an TBC erkrankte Kinder, später wurde sie zur Schule ausgebaut.

Ritalin, Risperdal, Nozinan, Passelyt, Truxal, Strattera, Psychopax etc. Dem KURIER liegt die Medikation der Internatskinder der Waldschule aus dem Jahr 2013 vor. Alle Kinder auf der Liste werden meist mit mehreren Arzneimitteln behandelt. „Medikamente helfen auch, Personal zu sparen“, sagt ein renommierter Wiener Kinder-Psychiater, der die Liste überprüft hat, aber namentlich nicht genannt werden will.
So werde das Neuroleptikum Nozinan heute in der Psychiatrie „nur mehr eingeschränkt eingesetzt“. Einem Mädchen aus der Waldschule werde es wohl „zum besseren Einschlafen“ gegeben. Ritalin und Risperdal werden in der Waldschule häufig verschrieben.

„Dann kommt die medizinische Keule“

Der Mediziner aus Wien spricht sich nicht prinzipiell gegen die Verabreichung aus. Die ärztlich verordneten Dosen dürfen aber niemals willkürlich erhöht werden.

Besonders ist dem Psychiater die häufige Verwendung von Stesolid aufgefallen. Stesolid ist Valium, das mittels Mikro-Einlauf anal verabreicht wird. „Moderne Psychiatrie verwendet das nicht mehr. So ein Mikro-Einlauf ist Gewalt an den Kindern. Das ist ein Übergriff, der auch für die Pfleger nicht angenehm ist.“
Die praktische Ärztin der Waldschule wollte dazu keinen Kommentar abgeben.

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