"Die Tschetschenen sind fremd hier"

Vor dem Schafenster Favoriten
Nach dem Anschlag in Boston sind viele Tschetschenen in Österreich verunsichert.

Reges Treiben Freitagnachmittag am Wiener Reumannplatz. Ein Stimmengewirr aus unterschiedlichsten Sprachen: Bulgarisch, Rumänisch, Türkisch, Kroatisch und auch Tschetschenisch. Hier in Favoriten lebt der Großteil der rund 26.000 in Österreich ansässigen Tschetschenen. In einem Café trifft der KURIER drei junge Tschetscheninnen.

Vor zehn Jahren flüchteten die jungen Frauen mit ihren Eltern aus Grosny nach Österreich. „Am Anfang war es schwer ohne Sprachkenntnisse in einem fremden Land. In der Schule wurden wir dafür gehänselt“, erzählt die 22-jährige Hawa. „Aber das kommt schon mal vor in der Schule“, ergänzt ihre beste Freundin Elina lächelnd. „Sonst wurde ich noch nie schlecht behandelt von den Österreichern“, sagt die 19-Jährige.

Mittlerweile fühlen sich die jungen Frauen hier zu Hause und sind gut integriert: Sie sprechen perfekt Deutsch, gehen zur Schule, Elina möchte danach studieren. „Das tun viele Tschetschenen. Wir leben ein ganz normales Leben“, sagt die 19-Jährige. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Wien. Der Vater sitzt in Tschechien im Gefängnis. In Russland ist er zum Tod verurteilt worden, weil er ein Terrorist sein soll. „Beweise gibt es dafür keine. In den nächsten Wochen wird über seine Freilassung entschieden“, schildern die Schwestern.

Mit dem Vorurteil, Terroristen zu sein, haben die Tschetschenen besonders nach dem Anschlag in Boston zu kämpfen. So recht möchte allerdings keiner von ihnen glauben, dass ihre Landsmänner für diese Tat verantwortlich sein sollen. Deswegen demonstrierten rund 40 Tschetschenen Donnerstagnachmittag vor der amerikanischen Botschaft in Wien.

Verunsicherung

„Die Demonstration ist eine Reaktion auf die Verunsicherung der Menschen. Nach solchen Anschlägen fällt auf das ganze Volk ein generalisierter Verdacht. Das macht Angst. Auch Misstrauen untereinander wächst“, schildert Malika die derzeitige Situation.

Vor zehn Jahren kam die Tschetschenin mit ihren beiden Kindern nach Österreich. Sie lernte Deutsch, studierte Psychologie und arbeitet mittlerweile als Psychotherapeutin bei der Caritas. Dort betreut sie viele Landsleute. „Die Tschetschenen sind fremd hier. Und Menschen haben Angst vor Fremden“, sagt die Therapeutin aus Erfahrung. Dazu kommen die Vorurteile gegen die Nation und Religion. „Natürlich gibt es Leute, die ihre persönlichen Probleme im Radikalismus ausleben. Das gibt es leider in jeder Religion“, sagt Malika.

Viele, auch junge Tschetschenen prägen die Erfahrungen in ihrer krisengebeutelten Heimat. Jedes Mal wenn ein Flugzeug vorbeifliegt, muss Hawa an die Bombenanschläge auf Grosny denken. „Wir haben unsere Angehörigen im Krieg verloren. Alles, was wir uns erarbeitet haben, haben wir zurücklassen müssen“, sagt Malika mit leiser Stimme.

Bettlerposition

Nur sehr ungern spricht sie über ihre Zeit als Flüchtling. „Ich war in einer Bettlerposition. Das war sehr kränkend und erniedrigend“, erinnert sie sich. „Flüchtling bedeutet, am Rande der Gesellschaft zu sein. Es ist schwer, in dieser Situation seine Würde und sein Selbstwertgefühl zu wahren.“ Mit diesem Problem sind auch viele ihrer Klienten konfrontiert. „Aber ich weiß, dass die Leute ihr Bestes geben, um ins normale Leben zurückzufinden“, sagt Malika.

Der erste Tschetschenien-Krieg brach 1994 aus, weil Russland die ausgerufene Unabhängigkeit Tschetscheniens nicht akzeptierte. Die russische Armee nahm im März 1995 Grosny ein. Die tschetschenischen Rebellen eroberten die Stadt 1996 zurück. Dann wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Der zweite Tschetschenien-Krieg begann, weil die russische Regierung tschetschenische Separatisten für Anschläge in Russland verantwortlich machte. 1999 begannen die Russen mit einer „Antiterror-Operation“ den Krieg. 2009 wurde er für beendet erklärt.

Kommentare