A4-Flüchtlingsdrama: Grenzkontrollen laut Niessl zu spät

In diesem Lkw starben 71 Menschen
Burgenlands Landeshauptmann: Erst nach dem Tod von 71 Menschen wurden Maßnahmen gesetzt.

Angesichts des näher rückenden Jahrestages des Fundes von 71 toten Flüchtlingen in einem Kühl-Lkw auf der Ostautobahn (A4) im Burgenland hat Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) das damalige Fehlen von Kontrollen an der Grenze kritisiert.

"Ich muss jetzt retrospektiv sagen, dass die Kontrollen zu spät eingesetzt haben", sagte Niessl am Freitag in Eisenstadt vor Journalisten.

A4-Flüchtlingsdrama: Grenzkontrollen laut Niessl zu spät
Reportage anlässlich der Flüchtlingstragödie in Parndorf am 27.08.2015.
Er habe schon vorher monatelang gefordert, an der Grenze zu kontrollieren. "Das wurde nicht gemacht, bis es zu den 71 Toten gekommen ist und dann hat man kontrolliert an der Grenze. Dann erst hat man entsprechende Maßnahmen gesetzt", stellte Niessl fest. Es sei "ganz klar, dass dort, wo man entsprechend kontrolliert, weniger Möglichkeiten für Schlepper bestehen."
A4-Flüchtlingsdrama: Grenzkontrollen laut Niessl zu spät
Der Todes-Lkw von außen. Die "Krone" entschied sich dafür, ein Bild von den Leichen im Inneren zu zeigen. Eine Grenzüberschreitung.
Am 27. August 2015 hatten die Behörden in dem in einer Pannenbucht bei Parndorf abgestellten Lkw 71 Leichen entdeckt. Die geschleppten Flüchtlinge waren in dem luftdicht abgeschlossenen Laderaum am Vortag auf ungarischem Staatsgebiet erstickt.

Tatzgern: Katastrophe jederzeit wieder möglich

"Es kann jederzeit wieder zu einer solchen Katastrophe kommen." Knapp ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Flüchtlingstragödie auf der Ostautobahn (A4) mit 71 Toten warnt Gerald Tatzgern vom Bundeskriminalamt (BK) im APA-Gespräch: Die Zahl der schleppungswilligen Flüchtlinge in der Türkei sei nicht kleiner geworden, dazu käme großes Potenzial in Afrika.

A4-Flüchtlingsdrama: Grenzkontrollen laut Niessl zu spät
Copyright: BMI/Egon WEISSHEIMER, 16.09.2010 Wien, Bundeskriminalamt, Pressefotos, Gerald TATZGERN
Allerdings habe sich seit dem Flüchtlingsdrama viel getan, konstatierte der Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels im BK. "Wir haben die zentrale Schleppereibekämpfung wieder verstärkt, mit dem Joint Operational Office against Human Smuggling Networks quasi einen operativen Arm für Europol gegründet."

"Die Schranken sind nicht mehr da"

Dieses Büro sitzt in Wien, Ziel sei es, genaue Analysen zu erarbeiten und den Ermittlungsdruck in den Nachbarstaaten - Ungarn, Slowenien, Italien - zu erhöhen, erläuterte der BK-Experte. Ein wichtiger Punkt dabei sei die Implementierung muttersprachlicher Ermittler aus der Türkei, Slowenien, Ungarn, Rumänien und anderer Staaten gewesen. "Die Schranken sind nicht mehr da." Die Ermittler haben mittlerweile auch sehr gute Kontakte in die Türkei. Tatzgern räumte aber ein: "Mit dem Putsch sind in der Türkei aber die Karten neu gemischt."

"Netz im Kampf gegen die Schlepper sehr eng spannen"

"Wir versuchen nun, das Netz im Kampf gegen die Schlepper sehr eng zu spannen", erläuterte der BK-Sprecher. Ein Beispiel: In den vergangenen Wochen hat sich die Schlepperroute von der serbisch-ungarischen Grenze weg in Richtung Kroatien und Slowenien verlagert. Das versuche man nun, auch in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden genau nachzuzeichnen. Die Analyse geht dabei sehr in konkrete Daten - Namen, Telefonnummern usw. Laut Tatzgern habe das zu einer großen Aktion in Deutschland geführt, bei der es Anfang Juli rund 40 Hausdurchsuchungen gab. Dieser Schwerpunkt wiederum half mit, am 21. Juli einen großen Schlepperring in Salzburg auszuheben.

A4-Flüchtlingsdrama: Grenzkontrollen laut Niessl zu spät
In dem auf einem Pannenstreifen auf der A4 in der Nähe von Parndorf (Bezirk Neusiedl am See) abgestellten Lastwagen dürften mindestens 30 Flüchtlinge ums Leben gekommen sein. Burgenland, am 27.08.2015.

Die Ermittler haben in den vergangenen Wochen den Routen aus Italien über den Brenner und Tarvis verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet, sagte Tatzgern. Es gebe viele Anlandungen und Rettungsaktionen in Süditalien. Pro Woche kommen dem BK-Experten zufolge etwa 6.000 Menschen. "Die Frage lautet: Wo wollen die hin?", sagte Tatzgern.

A4-Drama: Auswirkungen auch auf Täterseite

Das A4-Drama hat aber auch auf der Täterseite Auswirkungen gehabt. Laut Tatzgern zahlen die Flüchtlinge die Schlepper nun nur für den jeweiligen Abschnitt. Schafft der Flüchtling eine Teilstrecke, gibt es wieder eine Tranche Geld für die Schlepperorganisation. Vor dem A4-Drama wurde das ganze Geld im Vorhinein bezahlt, der Schlepper steckte die Reisewilligen irgendwie in ein Fahrzeug, nach dem Motto: "Wird schon irgendwie gehen." Das ist nun vorbei, aber nur auf der Balkanroute aus der Türkei, so Tatzgern. "In Afrika wird noch immer das ganzen Geld vorab bezahlt."

"Die große Frage ist, was in der Türkei passiert"

Tatzgern zufolge ist aber nicht zu erwarten, dass das schmutzige Geschäft der Schlepper weniger wird. "Das Potenzial von schleppungswilligen Menschen ist größer als letztes Jahr. Und die große Frage ist, was in der Türkei passiert. Kommt die Visafreiheit für türkische Staatsbürger nicht, was macht dann Präsident Recep Tayyip Erdogan?"

In Nordafrika - Libyen - hätten ehemalige Kämpfer des IS ein professionelles Netz aufgezogen. "Es ist in Libyen ein Aufbau notwendig", sagte der BK-Experte. "Man muss auch in afrikanische Staaten gehen und dort eine Perspektive schaffen." Ähnliches gelte für Afghanistan. "Und man muss ein Ventil der legalen Einreise schaffen, nur dann kann man der Schlepperei wirklich wehtun", sagte der Experte, an die politisch Verantwortlichen gerichtet.

27. August - In einem in einer Pannenbucht der A4 bei Parndorf im Burgenland abgestellten Kühl-Lkw werden nach Angaben der Behörden 71 Leichen gefunden. Die geschleppten Flüchtlinge waren in dem luftdicht abgeschlossenen Laderaum am Vortag auf ungarischem Staatsgebiet erstickt. Unter den Toten sind vier Kinder.

Der Fall löst bei in- und ausländischen Politikern Betroffenheit aus. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, und der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos zeigen sich schockiert.

28. August - Die Behörden geben die noch am Vortag erfolgte Festnahme von vier Männern in Ungarn bekannt. Es handelt sich um drei Bulgaren und einen Afghanen mit ungarischer Identitätskarte. In Wien beginnen die Obduktionen der Toten.

29. August - Die vier Verdächtigen werden in der ungarischen Stadt Kecskemet in Untersuchungshaft genommen. In der folgenden Nacht wird in Ungarn ein fünfter Verdächtiger festgenommen. Es handelt sich um einen weiteren Bulgaren. Unter den Beschuldigten befindet sich der Fahrer des Lkw. Die österreichischen Behörden gehen davon aus, dass Ungarn die Tatverdächtigen ausliefern wird.

30. August - Als Reaktion auf die Flüchtlingstragödie beginnen die österreichischen Behörden im Grenzgebiet zu Ungarn mit verstärkten Fahrzeugkontrollen. Am nächsten Tag, einem Montag, bildet sich auf der ungarischer Seite des Grenzübergangs Nickelsdorf ein 30 Kilometer langer Stau. Viele Pendler sind betroffen.

31. August - Im Stephansdom in Wien findet ein Gedenkgottesdienst statt, an dem fast die gesamte Bundesregierung teilnimmt. "Wir können nicht mehr wegschauen", mahnt Kardinal Christoph Schönborn.

4. September - Der damalige Landespolizeidirektor und nunmehrige Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) gibt in Eisenstadt bekannt, dass die erstickten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan kamen. Außerdem berichtet er, dass es 81 Menschen ebenfalls am 27. August gelungen sei, sich in der Nähe von Parndorf aus einem Lkw und einer lebensbedrohlichen Situation zu befreien. Für die Schleppung sei dieselbe Tätergruppe verantwortlich wie im Fall der erstickten Flüchtlinge.

11. September - Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt gibt unter Berufung auf ein Gutachten bekannt, dass die 71 Flüchtlinge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits auf ungarischem Staatsgebiet gestorben sind.

8. Oktober - Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt teilt mit, dass sie das Strafverfahren an die ungarischen Behörden abtreten möchte. Diese prüfen den Antrag und stimmen vier Wochen später zu.

26. November - Burgenlands Landespolizeidirektor Doskozil gibt in Eisenstadt bekannt, dass 70 der 71 Flüchtlinge identifiziert worden sind. 21 stammten aus Afghanistan, 29 aus dem Irak, 15 aus Syrien und fünf aus dem Iran. Unter den Toten habe sich auch eine sechsköpfige Familie aus Afghanistan - Vater und Mutter mit drei Kindern und einem Cousin - befunden. Zwei Familien aus Afghanistan und Syrien starben ebenfalls in dem Kühl-Lkw. Die meisten Toten wurden in ihre Heimatländer überführt, einige wurden in Österreich beigesetzt.

August 2016 - Die Ermittlungen der ungarischen Justiz - zuständig ist die Staatsanwaltschaft Kecskemet - sind weiter nicht abgeschlossen. Insider sehen aber Signale, dass die Anklageerhebung kurz bevorsteht. Für Ende August ist eine weitere Haftprüfung für die fünf Verdächtigen angesetzt.

Am 27. August 2015 wurde an der A4 im Burgenland jene Flüchtlingstragödie entdeckt, welche das Grauen der Flucht aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens oder Afrikas nach Mitteleuropa brachte: 71 Leichen von erstickten Menschen in einem abgestellten Kühlwagen. Die verdächtigen Tatbeteiligten wurden gefasst. Die "Schlepperkriminalität" machte Schlagzeilen. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Geschichtlich schwankt die Sichtweise und Bewertung solcher Aktivitäten, die mit Millionen Menschen auf der Flucht auch zu einem Milliardengeschäft von organisierter Kriminalität geworden ist, eben zwischen "Schleppern", "Schleusern" oder "Fluchthelfern". In einem im März dieses Jahres im Wiener Mandelbaum Verlag publizierten Band von Gabriele Anderl, Simon Usaty (Hg.): "Schleppen Schleusen Helfen - zwischen Rettung und Ausbeutung", dessen Beiträge auf eine Tagung zum Thema im Jahr 2014 in Wien zurückgehen, zeigt sich: Sichtweise und Bewertung solcher Aktivitäten hängen extrem von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situation ab.

Wer über Schlepper spricht, muss zunächst einmal über die Ursachen von Flucht und den Status des Asylwesens sprechen. Doron Rabinovici schreibt in seinem Vorwort glasklar: "Asyl ist die letzte Sicherheitsgarantie menschlichen Seins. Dieses Recht müssen jene einfordern, denen alle anderen Menschenrechte bereits verweigert wurden. Es verweist auf die Ausgestoßenen, auf die Vertriebenen, auf die Vogelfreien unserer Welt, auf jene, die der Gefangenschaft, der Folter, dem Mord eben noch entrinnen konnten. Erst das Recht auf Asyl besiegelt den Wert der gesamten Menschenrechtserklärung, denn es erweitert den Kreis des Humanen über den Citoyen hinaus. Es wirkt jenseits der nationalen Begrenzung. Es setzt ein, wenn das Individuum im eigenen Staat nicht mehr geschützt ist. Es macht aus dem Menschen mehr als einen Bürger. Asyl ist Ausfallshaftung und Grundlage aller Menschenrechte zugleich."

Was die Flüchtenden durch die gesamte Weltgeschichte immer angestrebt haben: Sicherheit und Überleben für sich und ihre Angehörigen. Und dazu haben sich Flüchtlinge immer schon mehr oder weniger altruistisch agierenden Helfern bedient. Die Herausgeber des Buches betonen die zwischen allen Extremen schwankende Bewertung von Fluchthelfern, Schleppern oder - wie es in der französischsprachigen Welt positiv um die Zeit des Zweiten Weltkrieges hieß - von "Passeuren": "Bereits während der NS-Zeit wurden Fluchthelferinnen und Fluchthelfer durchwegs pauschal kriminalisiert, in der Gegenwart ist dies in noch viel stärkerem Ausmaß der Fall. (...) Während des Kalten Krieges wurde sie im Allgemeinen positiv wahrgenommen, weil sie dazu beitrug, das negative Bild vom ideologischen Gegner - von den Regimen des Ostblocks - zu zementieren (...; siehe Beispiele über die Flucht aus Ungarn, der damaligen CSSR oder aus Jugoslawien nach Österreich; Anm.)."

Bis in die 1980er-Jahre hinein hätte es in der BRD als legitim gegolten, dass Fluchthelfer für ihre Tätigkeit Geld verlangten, solange sie die deutsch-deutsche Flucht ermöglichten. "Der (deutsche; Anm.) Bundesgerichtshof gab sogar einem Schleuser Recht, der von einem DDR-Bürger das vereinbarte Entgelt von 10.000 Mark einklagte, obwohl dessen Flucht in den Westen misslungen war." Dieser Vertrag hätte "nicht allgemein gegen die guten Sitten" verstoßen.

Eines der frühesten gut belegbaren Beispiele für "Schlepperunwesen" stammt aus Großbritannien bzw. Frankreich um 1690. Zum Jahreswechsel 1688/89 war der zum Katholizismus konvertierte König Jakob II./VII. von England, Irland und Schottland mit seiner Familie und Anhängern nach Frankreich geflüchtet, wo Ludwig XIV. ihnen Aufenthalt und Unterstützung gewährte. Schnell schlossen sich andere Jakobiten diesen an oder entwichen nach Irland. Ein Netzwerk aus Schleusern brachte Fluchtwillige in nächtlichen Bootsfahren zum Beispiel nach Frankreich.

"Unter diesen Umständen versuchte die englische Regierung, die Ausreise aus England durch die Vergabe von Pässen zu kontrollieren und zu regulieren: Nur jenen Personen war eine Überfahrt gestattet, die einen Pass vorweisen konnten, der von einem der beiden Secretaries of State, der englischen Staatsminister, unterzeichnet war. Um insbesondere die Passage nach Frankreich zu kontrollieren, wurde 1692 eine Überfahrt dorthin gesetzlich zum Hochverrat erklärt, falls der Passagier zuvor keine Genehmigung erhalten hatte. Diese Bestimmungen versuchten Reisende zu hintertreiben, indem sie ihre Passunterlagen nach geglückter Überfahrt für eine erneute Verwendung nach England zurücksandten", heißt es in dem entsprechenden Kapitel des Buches. Passfälschungen etc. waren an der Tagesordnung.

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