60 Jahre Kurier

60 Jahre Kurier

Zeitungsleute leben zwar im Morgen, doch heute blicken wir zurück, denn der KURIER feiert Geburtstag – den 60.

Text: Susanne Mauthner-Weber, Christoph Silber
Grafik: Andrea Gludovatz / Manuela Eber
Kommentare: Helmut Brandstätter, Hubert Feichtlbauer, Günther Wessig, Franz Ferdinand Wolf, Peter Rabl, Christoph Kotanko
Umsetzung: Nicole Kolisch

Man stelle sich vor: Der russische Präsident kommt nach Wien, um den amerikanischen zu treffen, und eine Zeitung empfängt ihn mit einem Gedicht eines regierungskritischen, russischen Autors auf der Titelseite. Unvorstellbar. 1960 aber passiert: Der KURIER veröffentlichte just am Tag der Ankunft von Nikita Chruschtschow ein Gedicht von Boris Pasternak, gegen den der mächtigste Mann der Sowjetunion gerade eine Hetzkampagne führte – auf Seite 1, in Russisch. "Wir haben uns viel getraut", sagte Hugo Portisch schon zum 40. Geburtstag der Zeitung. Und er muss es wissen, war er doch von 1958 bis 1967 Chefredakteur.

Als der KURIER am 18. Oktober 1954 erstmals erschien, war Österreich ein anderes Land als heute: arm, besetzt, aber erfüllt von Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit, ohne Fernsehen, vom Internet ganz zu schweigen. Schaut man auf die Gründungsjahre zurück, steht hinter den Schlagzeilen von damals auch ein Stück jüngere Geschichte, deren Dimension erst durch diesen Blick zurück begreifbar wird. Also erinnern wir uns – zum Beispiel an 1955.

Damals hatten Chefredakteur Hans Dichand und sein Vize Portisch einen direkten Draht zur österreichischen Delegation in Moskau. Die Leser des Neuen KURIER profitierten davon und erfuhren am Abend, worauf andere bis zum Morgen warten mussten: "Österreich wird frei!" Weil um diese Zeit keine Kolporteure mehr zur Verfügung standen, trugen die Redakteure die Extraausgabe selbst aus.

Der Preis für Unabhängigkeit und Staatsvertrag war die Neutralität, die – heute unglaublich – 1955 alles andere als mehrheitsfähig war. So wetterte die Arbeiterzeitung: "Wehe, ihr kommt mit der Neutralität zurück!" Und die Parteizeitungen waren in den 1950er-Jahren tonangebend, sagt der Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell: "Es war nicht selbstverständlich, dass eine Zeitung frei berichtete und ein breites Spektrum gesellschaftspolitischer Strömungen abbildete, kontroversiell und ohne vorgefasste Meinung. Da war der KURIER eine auffällig moderne Zeitung."

Wer setzt sich in diesen Jahren für die Entrechteten ein, wer unterstützt Juden bei ihren Forderungen nach Restitution?

Hausjell: "Das war damals ganz und gar unüblich." Journalisten mit mehr oder weniger brauner Vergangenheit waren in die Redaktionen zurückgekehrt und hatten kein Interesse daran, die Nachwehen der jüngsten Vergangenheit zu thematisieren. "Es gibt in dieser Zeit ganz wenige Zeitungen, die sich mit dem Nazismus und dem beginnenden Neo-Nazismus auseinandersetzten. Der KURIER war eine davon und hat sich auch in den späteren Jahrzehnten den wachsamen Journalismus rechten Strömungen gegenüber bewahrt."

Das Jahrzehnt im Schnelldurchlauf:

60 Jahre Kurier
Auch zu Flüchtlingen bezogen bereits die jungen Blattmacher der ersten Stunde Position: Am26. November 1956, gleich nach Beginn des Ungarnaufstandes und der einsetzenden Flüchtlingswelle, stand auf Seite 1: "Alle Flüchtlinge, die Arbeit suchen, können ab sofort kostenlos den Inseratenteil des KURIER in Anspruch nehmen."

Diese Initiative ging fast nahtlos in die KURIER-Weihnachtsaktionen für Bedürftige und in Not geratene Menschen über – Jahrzehnte, ehe es Licht ins Dunkel gab.

Eine KURIER-Initiative hat gar Geschichte geschrieben: Das erste Volksbegehren Österreichs, das zur Reform des ORF führte. Für alle jüngeren Leser: "Sowohl Hörfunk als auch Fernsehen waren total in großkoalitionäre Zwänge verstrickt. Das war teuer, ineffizient und für die demokratische Entwicklung einer Gesellschaft verheerend", analysiert Kommunikationswissenschaftler Hausjell.

"Das Rundfunkvolksgebehren ist eine Leistung, die der KURIER ganz stark auf seine Fahnen heften darf und die dem österreichischen Rundfunk zu dem verhalf, was ihn in den späten 1960er-Jahren modern gemacht hat." Das sei ungemein wichtig für die Entwicklung der Zweiten Republik gewesen und zeige, wie mächtig Medien sein können.

Chronologie eines Zeitungsprotestes:

Jahre hindurch hatten Portisch und seine Kollegen scharfe Kritik an der Praxis der ÖVP-SPÖ-Koalition geübt, alles im Land in eine rote und schwarze Hälfte zu unterteilen. Als die Koalition auch noch den Rundfunk unter ihre Kontrolle bringen wollte, rückte der KURIER-Chef einen Leitartikel auf die Titelseite: "Demokratie in Gefahr". Seine Stellvertreter waren skeptisch: "Wir schreien halt wieder auf, aber g’schehen tut wieder nix." Dieses "da geschieht wieder nix" gab bei Portisch den Ausschlag: Die Leser wurden aufgefordert, gegen die Pläne der Koalition zu protestieren. Das Echo war gewaltig. Kleine Zeitung, Wochenpresse – alle unabhängigen Zeitungen – schlossen sich dem Protest an, der in einem Volksbegehren mündete. Nicht weniger als 832.353 Österreicher unterschieben damals für einen unabhängigen ORF.

60 Jahre Kurier
Archivbild 15.07.1965 Farbe=sw

Es hat mich natürlich nicht sonderlich berührt, dass ich in einem besetzten Land geboren wurde, damals, an einem Sonntag im April 1955. Aber wie sich Österreich entwickelt hat, seit Außenminister Leopold Figl wenig später, am 15. Mai 1955, der jubelnden Menge vor dem Belvedere den Staatsvertrag zeigte, beeindruckt mich heute noch.

Der KURIER, den ich lese, seit ich Buchstaben entziffern kann, war bereits eine UNABHÄNGIGE Zeitung, als die Regierung Raab/Schärf mit Leopold Figl und Staatssekretär Kreisky im Frühjahr 1955 noch in Moskau verhandelte. Denn im Oktober 1954 entließ die amerikanische Besatzungsmacht den WIENER KURIER in die Freiheit. Es entstand der NEUE KURIER. Unabhängig sind wir heute noch, das garantiert das wohl beste Redakteursstatut des Landes, das wir, wie so vieles, Hugo Portisch zu verdanken haben.

Der KURIER hat bewegte Zeiten überstanden, Eigentümerwechsel, Zeitungskriege und technische Veränderungen. Und wie alle Medien weltweit sind wir in der digitalen Welt angekommen, in der es noch mehr als früher darauf ankommt, dass wir uns als professionelle Journalisten Tag für Tag plagen. Jeder kann heute im Internet Nachrichtenseiten betreiben, jedes Unternehmen kann seine Werbebotschaften als Information verpacken, jede Regierung kann ihre Propaganda als seriöses News-Portal verkleiden. Noch nie war die Gefahr so groß, dass Leserinnen und Leser manipuliert werden.

Das ist für uns eine Riesenchance: Wir müssen uns im unendlichen Meer des World Wide Web abheben, mit gut recherchierten Reportagen, klaren Analysen und mutigen Kommentaren.

Österreich ist frei – und unabhängiger Journalismus ist die Grundlage dafür, dass das so bleibt. Unsere Geschichte verpflichtet uns, und unsere Autoren garantieren, dass wir täglich für diese Freiheit arbeiten.

Kommentare