60 Jahre KURIER: 1964 - 1974

60 Jahre KURIER: 1964 - 1974

Teil 2: 1964 - 1974. Überall in Europa gärte es – Prager Frühling, Studentenproteste, Feminismus, ein neues Lebensgefühl. Erinnerungen an das Jahrzehnt der Rebellion.

Es war im Spätsommer 1970, als wenige KURIER-Zeilen in Wien ein Verkehrschaos auslösten: Die Les-Humphries-Singers und Reinhard Mey trafen im Vorfeld eines Wien-Konzerts auf eine KURIER-Mannschaft.

Ort des Jux-Fußballmatches: der Wacker-Platz in Meidling. 9000 Besucher strömten hin, bejubelten jedes Tor, als handle es sich um ein Länderspiel. Und keiner der Juxkicker hatte geahnt, dass eine kurze Notiz im KURIER ein derartiges Echo auslösen würde.

Jedes Wort hatte offensichtlich Gewicht. Nach gut einer Dekade hatte sich die Zeitung etabliert.

Er habe in Hugo Portisch einen global denkenden Chefredakteur gehabt, der ihn schon einmal wochenlang an den persischen Golf schickte. "Wir waren Abenteurer mit festem Monatsgehalt."

Das war damals auch dringend nötig: "In der Zeit des Kalten Krieges waren wir täglich journalistisch gefordert: Europa war geteilt, an unseren Grenzen starben Menschen, und Österreich war ein Wachturm der Freiheit am Eisernen Vorhang."

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Als 1968 der Prager Frühling anbrach, titelte der KURIER "Aufbruch in die Freiheit". "Wir glaubten eine Zeit lang, die Sache könnte gut gehen. Eine Woche vor dem Einmarsch schrieben wir ,So ziehen nun die Russen ab‘.

"Das war eine tragische Fehleinschätzung", sagt Nussbaumer und erzählt von einer anonymen Telefonstimme, die ihm schon eine Woche davor vertraulich die Sowjet-Invasion in der ČSSR angekündigt hatte – und recht behielt.

Überall in Europa gärte es – Anti-Kriegs-Demos, Studentenproteste und Feminismus. Nur in Österreich fand die 68er-Bewegung praktisch nicht statt. Einzig gegen den Vietnam-Krieg gab es in Wien Proteste, und der KURIER empörte sich. Nicht über die politischen Ziele, sondern über den Verkehrsstau: "Demonstranten setzten sich mitten auf die Straße".

"Wir standen dem Phänomen Studentenrevolution völlig ratlos gegenüber, haben die Ziele überhaupt nicht verstanden", sagt Nussbaumer heute. "Der KURIER war eine bürgerliche Zeitung, und wir missverstanden das als kommunistische Weltverschwörung. Erst sehr viel später haben wir kapiert, wie daraus Liberalisierung und Öffnung entstanden." Ein neuer Zeitgeist. "Kirchenreform, Feminismus, 68er-Bewegung haben alle gemeinsame Wurzeln: Wir lassen uns von einer zentralen Stelle unsere Lebensformen nicht vorschreiben", analysiert Hubert Feichtlbauer, von 1973 bis 1975 Chefredakteur.

Scheinbar liberal gab man sich auch in Frauenfragen. Fand die Debatte schrullig, wie sich die Schweizerinnen 1971 landesweit das Wahlrecht erkämpften. Schließlich gibt es das Frauenwahlrecht in Österreich seit 1919. Allerdings: Die Schweizer Verhältnisse entsprachen in vielem der österreichischen Realität. Die Politik war ebenso ein Männerverein wie der Journalismus. "Natürlich war die Redaktion eine Männerpartie", sagt Nussbaumer. Hausjell ergänzt: "Damals begann die Stärkung der Frauen im Journalismus – auf einem sehr niedrigen Niveau allerdings. Der Frauenanteil in den Redaktionen lag bei 16 Prozent."

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Bild im Bildarchiv mit Datum 5/1984

In diesen Jahren hatte der KURIER aber auch Sprünge im Selbstverständnis hinzunehmen. Im Kampf mit der Kronen Zeitung musste man den Titel "größte Tageszeitung Österreichs" ablegen. "Das Leiden des KURIER bestand darin, dass er eine gute Zeitung war, seit dem Abgang von Hugo Portisch (1967) aber keine strahlende Leitfigur hatte", analysiert Feichtlbauer. Und krempelte das Blatt gehörig um, führte Rubriken ein, die bis heute vertraut sind: eine Gesellschaftskolumne, die Glosse auf Seite 1 und ein TV-Programm. Seine Philosophie: "Keine Zeitung sollte gegen das Fernsehen arbeiten, sondern mit ihm besser leben."

Medienexperte Hausjell dazu: "In den Redaktionen ging die Angst vor dem Fernsehen um. Eine der ersten Diskussionsrunden im TV widmete sich der Frage, ob Zeitungen durch das Fernsehen untergehen würden. Aus der Angst heraus begriff man: Eigentlich ist das unsere Chance. Ausführliche Fernsehkritiken und TV-Programme – ein neuer Themenbereich für die Berichterstattung war geboren. Es war eine Win-Win-Situation."

Jäh verblasste die Rezeptformel "Große Koalition" als Dauermedikation für ein demokratisches Österreich. Salzburgs LH Josef Klaus getraute sich, nach seinem Wahlerfolg 1966 mit einer ÖVP-Alleinregierung einen ersten Reformschub einzuleiten. Rasch wurde das von drei Zeitungen (eine der KURIER) 1964 zur Beseitigung des Radio- und Fernseh-Parteiproporzes gestartete Volksbegehren als bisher einziges auch politisch umgesetzt. Generalintendant Gerd Bacher nutzte die neu gewonnene Unabhängigkeit und schuf ein exquisites Informationsprogramm und mit Ö3 den ersten Pop-Rock-Radiosender im deutschen Sprachraum.

Das Kanzleramt eroberte schon vier Jahre danach der fantasievolle neue SPÖ-Vorsitzende Bruno Kreisky, der Österreich ein gesellschaftspolitisches Reformprogramm, aber auch eine Schubumkehr bei der ORF-Entfesselung verpasste. Spaziergänge auf dem Mond und Herzverpflanzungen förderten den Optimismus: Was wir wollen, können wir auch! Nach dem 6-Tage-Krieg schloss Israel 1967 den entscheidenden Frieden mit Ägypten. (Na ja, der Palästina-Konflikt dauert 47 Jahre später noch immer an). Die Anordnung eines autofreien Tags pro Woche machte uns 1974 die Rohöl-Abhängigkeit von arabischen Öl-Potentaten bewusst. "Nie wieder!" gelobte die Politik. An Erdgas dachte damals niemand …

Noch mehr als Politiker im Öl rührte der vermeintliche "Übergangspapst" Johannes XXIII. in der katholischen Kirche um. Beim II. Vatikanischen Konzil 1962–1965 fingen Bischofmützen und Machtpositionen zu wanken an. Bald wurde im Vatikan wieder kräftig gemauert. In Österreich hielt Kardinal Franz König noch lange am Reformkurs fest. Der Widerstand in Rom wurde von Angst ("Freie Liebe", "Mein Bauch gehört mir") gespeist. Diese ging von der Studentenrevolte 1968 aus, die blutig begann und im Business-Look einer neuen Generation endete, in der die Frauen ihre jahrhundertelang mitgeschleppten Ketten abzuschütteln begannen. (Dafür schleppen wir jetzt das Binnen-I.)

Nicht sofort erfolgreich war der "Prager Frühling", als aufgeklärte Politiker 1968 dem Kommunismus ein "menschliches Gesicht" verpassen wollten. Panzer der Sowjetblock-Armeen erstickten den Aufstand. Aber 1989 kam die ersehnte Wende doch zustande. Wenn die Zeit reif ist, stehen abgewürgte Reformen von den Toten auf: in der Gesellschaft, in Politik und Kirche, selbst im ORF – auch wenn nicht alle Retro-Machthaber es schon wahrhaben möchten.

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